4. Kapitel

Bei einem Menschen, der im Gebet wachte, sah es aus, als ob ihr Herz vor Gottesliebe brennen würde und ganz von geistlicher Freude erfüllt wäre, so dass ihr Körper gleichsam gefühllos wurde und seine Kraft verlor. Sie hörte da eine Stimme, die zu ihr sagte: „Ich bin der Schöpfer und Erlöser aller. Wisse, dass eine solche Freude, wie du sie jetzt in deiner Seele empfindest, ein Schatz von mir ist. Es steht ja geschrieben, dass der Geist weht, wo er will, und du hörst seine Stimme, aber du weißt nicht, woher er kommt, und wohin er fährt. Diesen Schatz beschere ich meinen Freunden auf mannigfache Weise und durch vielerlei Gaben.

Aber nun will ich mit dir von einem anderen Schatz sprechen, den es noch nicht im Himmel gibt, sondern bei euch auf Erden. Dieser Schatz sind die Reliquien und Leiber meiner Freunde; ja ob die Leiber meiner Heiligen vermodert oder frisch sind, ob sie zu Asche und zu Staub verwandelt sind oder nicht – so sind sie doch gewiss mein Schatz.
Aber nun kannst du fragen: Die Schrift sagt ja, „dort, wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz. Wie kann da mein Herz bei diesem Schatz sein, nämlich bei den Reliquien der Heiligen? Die höchste Lust meines Herzens ist, allen, die die Ruhestätte meiner Heiligen besuchen und deren Reliquien verehren (die Heiligen, die durch Wundertaten verherrlicht und von den Päpsten kanonisiert sind), ewigen Lohn zu bescheren – je nach dem Willen, dem Glauben und der Mühe der Besucher.

Auf diese Weise ist mein Herz bei meinem Schatz. Infolgedessen will ich, dass du wissen und überzeugt sein sollst, dass sich an diesem Platz mein allerteuerster Schatz befindet, nämlich die Reliquien meines hl. Apostels Thomas, die sich an keinem anderen Ort in solcher Menge und so ungestört und unzerstückelt finden, wie in diesem Alter. Denn als die Stadt, wo der Leib meines Apostels zuerst verwahrt wurde, zerstört wurde, wurde dieser Schatz durch einige meiner Freunde mit meiner Zulassung in diese Stadt gebracht und in diesen Altar gelegt.

Aber nun liegt er wie verborgen hier, denn bevor der Leib des Apostels hierher kam, waren die großen Männer in diesem Reich so beschaffen, wie geschrieben steht: „Sie haben einen Mund, aber reden nicht, sie haben Augen, aber sehen nicht, sie haben Ohren, aber hören nicht, sie haben Hände, aber greifen nicht, sie haben Füße, aber gehen nicht.“ Wie sollten dann solche Leute, die so gleichgültig gegen mich, ihren Gott, sind, einem solchen Kleinod gebührende Ehre erweisen?

Wer also mich und meine Freunde über alles liebt, der lieber sterben als mich kränken will und außerdem den Willen und die Macht hat, mich zu ehren, und anderen befiehlt, das auch zu tun, der soll – wer es auch ist – meinen Schatz erhöhen und ihn ehren, nämlich die Reliquien von diesem meinem Apostel, den ich erwählt habe. Deshalb soll gesagt und als etwas ganz Sicheres gepredigt werden, dass – wie die Leiber der Apostel Petrus und Paulus in Rom sind, - so sind die Reliquien meines heiligen Apostels Thomas in Ortona.“

Die Braut antwortete und sagte: „O Herr, haben die großen Männer dieses Reiches keine Kirchen gebaut und reichliche Almosen gegeben?“ Der Herr sagte zu ihr: „Sie haben viel getan und mir große Dinge aus Metall geopfert, um mich gnädig zu stimmen. Doch waren vieler Leute Almosen mir weniger wohlgefällig, weil die Spender ihre Ehen gegen die Bestimmungen der heiligen Väter eingegangen sind. Und obwohl die Ehen, die die Päpste zugelassen haben, rechtsgültig und wert waren, gehalten zu werden, war doch ihr Wille verkehrt und hatte gegen die Vorschriften der Kirche verstoßen. Deshalb wird dies bei meinem göttlichen Gericht erörtert und verurteilt werden.“

Zusatz
Als Frau Birgitta nach Ortona reiste, geschah es ihr, dass sie und ihr Gefolge im Freien, in kühlem Wetter und Platzregen übernachten mussten. Im Morgengrauen sagte Christus: „Aus drei Gründen wird der Mensch von Trübsal betroffen: Entweder, damit er demütiger wird (so wurde König David geprüft, oder deshalb, dass seine Furcht und Behutsamkeit erhöht wird (so, als Sara, Abrahams Frau, vom König weggeholt wurde), oder zur Freude und Ehre des Menschen. So ist es auch euch ergangen. Ich habe nämlich denen, die euch begegnet sind, die Eingebung gegeben, euch zu sagen, dass ihr an dem Tage nicht weitergehen solltet, aber ihr wolltet nicht glauben und habt deshalb dies erlitten. Geht deshalb jetzt in die Stadt, so wird euch mein Diener Thomas geben, was ihr begehrt.“

Weiter offenbarte sich Christus in Ortona und sagte: „Ich sagte dir vorher, dass mein heiliger Apostel Thomas mein Schatz war. Das ist gewiss war. Denn dieser Thomas ist in Wahrheit ein Licht der Welt, aber die Menschen lieben das Dunkel mehr als das Licht.“ Da zeigte sich auch der hl. Thomas und sagte: „Nun will ich dir den Schatz geben, den du so lange ersehnt hast.“ Und sieh, zu derselben Stunde trat ein kleiner Splitter aus einem Knochen des hl. Thomas aus dem Reliquienschrein des Heiligen aus, ohne dass jemand daran rührte. Birgitta nahm ihn mit Freude entgegen und bewahrte ihn voll Ehrfurcht auf.