24. Kapitel

O mein Herr Jesus Christus, ich bitte dich, dass dein Glaube sich über die Ungläubigen ausbreiten möge, dass die Guten in deiner Liebe entzündet werden, und dass die Bösen gebessert werden mögen.“ Der Sohn erwiderte: „Du bist darüber betrübt, dass Gott allzu wenig Ehre hat, und du wünschst von deinem ganzen Herzen, dass Gottes Ehre vollkommen werde. Daher will ich dir ein Gleichnis erzählen, aus dem du verstehen magst, dass Gott auch durch die Bosheit schlechter Menschen geehrt wird, wenn auch nicht durch ihr Verdienst und ihren Willen.

Es war nämlich eine weise und schöne Jungfrau, reich und tugendhaft, die neun Brüder hatte. Jeder von ihnen liebte seine Schwester wie sein eigenes Herz, und das Herz eines jeden war sozusagen in ihr. In dem Reich, wo die Jungfrau wohnte, war es so bestimmt, dass der, der andere ehrte, selbst geehrt wurde, wer raubte, sollte selbst beraubt werden, und wer Gewalt anwendete, enthauptet werden sollte.
Der König des Landes hatte drei Söhne. Der erste von diesen liebte die Jungfrau und bot ihr goldene Schuhe und goldene Schärpen, Gold für die Finger der Hand und eine Krone für den Scheitel an. Der zweite begehrte das Eigentum der Jungfrau und plünderte sie aus. Der dritte begehrte ihre Jungfräulichkeit und versuchte, ihr Gewalt anzutun.

Diese drei Königssöhne wurden von den neun Brüdern der Jungfrau gefangen genommen und vor den König geführt. Die Brüder sagten zum König: „Deine Söhne haben unsere Schwester begehrt. Der erste ehrte sie und liebte sie von ganzem Herzen. Der zweite plünderte sie aus. Der dritte hätte gern sein Leben hingeben wollen, wenn er ihr hätte Gewalt antun können. Und sie wurden gerade zu der Stunde gefangen genommen, als sie fest entschlossen waren, das zu vollbringen.“

Als der König das hörte, antwortete er: „Alle sind sie meine Söhne, und ich liebe sie alle ebenso sehr. Doch kann ich weder gegen die Gerechtigkeit handeln, sondern ich habe vor, über meine Söhne wie über meine Diener zu urteilen. Komm daher, du mein Sohn, der die Jungfrau ehrte, und empfange mit deinem Vater Ehre und Krone. Aber du, mein Sohn der das Eigentum der Jungfrau haben wollte, und sie ausgeplündert hast, du wirst im Gefängnis sitzen, bis das Geraubte zurückerstattet ist. Ich habe das Zeugnis über dich gehört, dass du deine Tat bereut hast und das zurückgeben wolltest, was du geraubt hast, aber nicht dazu gekommen bist, weil das schnelle und unvorhergesehene Gericht dir zuvorkam. Deshalb sollst du im Gefängnis bleiben, bis das letzte Scherflein zurückerstattet ist.

Aber du mein Sohn, du hast alles versucht, die Jungfrau zu vergewaltigen, aber hast dein Tun nicht bereut, und daher sollst du auf die gleiche Weise geplagt werden, wie du Mittel angewendet hast, um zu versuchen, die Jungfrau zu kränken.“ Alle Brüder der Jungfrau antworteten: „Lob sei dir, Richter, für deine Gerechtigkeit. Wenn es in deiner Gerechtigkeit keine Tugend und keine Unparteilichkeit und Liebe gegeben hätte, so hättest du nie in dieser Weise geurteilt.“

Diese Jungfrau bedeutet die heilige Kirche, die so eingerichtet ist, dass sie hoch und edel in ihrem Thron ist, schön in den sieben Sakramenten, lobenswert in ihren Sitten und Tugenden und hold in ihrer Frucht ist, weil sie den wahren Weg zur Ewigkeit zeigt. Diese heilige Kirche hat gleichsam drei Söhne, und mit ihnen sind viele gemeint. Der erste bezeichnet die, die Gott von ganzem Herzen lieben. Der zweite bezeichnet die, die zeitliche Dinge zu seiner Ehre lieben. Der dritte bezeichnet die, die ihre eigene Lust vor Gott stellen.

Die Jungfräulichkeit der Kirche bezeichnet die Menschenseelen, die nur durch die Macht der Gottheit geschaffen sind. Der erste Sohn schenkt goldene Schuhe, wenn er Reue über seine Übertretungen und Versäumnisse empfindet. Er bietet Kleider an, wenn er auf die Vorschriften des Gesetzes achtet und den Rat des Evangeliums beachtet, so weit er kann. Er bietet einen Gürtel an, wenn er sich fest vornimmt, in Enthaltsamkeit und Keuschheit auszuharren. Er setzt einen Ring auf die Hand der Jungfrau, wenn er fest daran glaubt, was die heilige Katholische Kirche lehrt, nämlich das kommende Gericht und das ewige Leben.

Der Stein des Ringes ist die Hoffnung, in der er beständig hofft, dass keine Sünde so verabscheuungswürdig ist, dass sie nicht durch Buße und den Willen zur Besserung ausgetilgt werden kann. Er setzt die Krone auf den Scheitel der Jungfrau, wenn er die wahre Liebe hat. So wie es viele verschiedene Steine in der Krone gibt, so gibt es viele verschiedene Tugenden in der Liebe. Aber das Haupt der Seele oder Kirche, das ist mein Leib. Jeder, der diesen meinen Leib liebt und ehrt, der wird mit Recht Gottes Kind genannt.

Deshalb hat ein jeder, der die heilige Kirche und seine Seele in dieser Weise liebt, neun Brüder. Die Brüder sind die neun Engelchöre, denn mit ihnen wird er das Erbe übernehmen, und ihre Gesellschaft wird er im ewigen Leben genießen. Diese Engel empfangen die heilige Kirche nämlich mit aller Liebe, als ob sie im Herzen eines jeden wäre. Es sind ja nicht die Steine und die Wände, die die heilige Kirche ausmachen, sondern es sind die Seelen der Gerechten, und deshalb freuen sich die Engel über ihre Ehre und sind darüber so glücklich, wie über ihre eigene.

Der zweite Bruder oder Sohn bezeichnet die, die die Einrichtung der heiligen Kirche verachten, die für die Ehre der Welt und die Liebe des Fleisches leben, die die Schönheit der Tugenden entstellen und nach ihrem eigenen Willen leben, aber doch gegen Ende ihres Lebens bereuen und Zerknirschung über ihre schlechten Taten empfinden. Die sollen im Fegefeuer gereinigt werden, bis sie durch die Werke und Gebete der Kirche mit Gott versöhnt werden.
Der dritte Sohn bezeichnet die, die ihre eigene Seele zu Fall bringen und sich nicht darum kümmern, ob sie ewig verloren geht, wenn sie hier nur ihre Lust befriedigen können. Über solche Menschen fordern die neun Engelchöre Gerechtigkeit, denn sie haben es abgelehnt, umzukehren und Buße zu tun. Wenn Gott Gerechtigkeit übt, loben ihn deshalb die Engel für seine unbeugsame Unparteilichkeit.

Aber wenn Gottes Ehre vollkommen wird, dann freuen sie sich seiner Tugend, dass er auch die Bosheit schlechter Menschen zu seiner Ehre nützt. Daher sollst du, wenn du böse Menschen siehst, mit ihnen Mitleid haben, dich aber über Gottes ewige Ehre freuen. Denn Gott, der nichts Böses will, weil er Schöpfer aller Dinge ist und in Wahrheit in sich selbst Güte ist, er lässt doch als der gerechteste Richter vieles geschehen, wofür er im Himmel und auf Erden für seine Unparteilichkeit und seine verborgene Güte geehrt wird.“