104. Kapitel

Die Mutter spricht zum Sohn und sagt: „Gesegnet seist du, mein Sohn! Es steht geschrieben, dass ich „gesegnet“ genannt wurde – ich, die ich dich im Schoß getragen habe. Aber du hast geantwortet, dass auch der gesegnet ist, der deine Worte hört und bewahrt.
Also, mein Sohn, ich bin die, die sich an deine Wort erinnert und sie in meinem Herzen bewahrt hat. Deshalb rufe ich mir ein Wort in Erinnerung, das du gesagt hast – nämlich zu Petrus, als dieser fragte, wie weit man bis zu sieben Mal dem, der gefehlt hat, verzeihen sollte. „Man muss ihm bis zu 77 Mal verzeihen“, hast du geantwortet. Du wolltest damit sagen, dass so oft sich jemand demütigt mit dem Willen, sich zu bessern, so bist du bereit, Barmherzigkeit zu üben.“

Der Sohn antwortete: „Ich bezeuge dir, dass meine Worte in dir Wurzel geschlagen haben wie das Korn, das in fetten Boden gesät wird und hundertfache Frucht bringt. Ebenso bringen deine ehrbaren Taten Früchte der Freude für alle. Erbitte deshalb, was du willst!“

Da sagte die Mutter: „Ja bitte dich mit Dionysius und deinen anderen Heiligen, deren Leiber in der Erde dieses französischen Königreiches liegen, aber die Seelen im Himmel: Erbarme dich über dieses Reich! Denn (um ihretwegen im Gleichnis zu sprechen, die hier im Geist anwesend ist) – ich sehe so etwas wie zwei sehr wilde Tiere, ein jedes in seiner Art.
Das eine ist äußerst begierig, alles zu verschlingen, was es haben kann, und je mehr es bekommt, desto hungriger wird es, und nie wird sein Hunger gestillt.

Das andere wilde Tier versucht, über alle andere hinaus zu steigen. Diese wilden Tiere haben drei böse Dinge an sich. Erstens haben sie eine Furcht einflößende Stimme. Zweitens sind sie voll von einem gefährlichen Feuer. Drittens möchte jedes von ihnen das Herz das anderen verschlingen, und das eine sucht mit seinen Zähnen im Rücken des anderen Tieres herum, um einen Weg zu seinem Herzen zu finden, so dass es beißen und es töten kann.
Das andere hat den Mund vor der Brust des anderen aufgesperrt und will dort einen Zugang zum Herzen suchen.

Die Furchteinflößende Stimme dieser wilden Tiere hört man schon von weitem, und alle Tiere, die mit offenem Maule kommen, fangen vom Feuer dieser wilden Tiere an zu brennen und fallen deshalb tot zu Boden, während die Tiere, die mit geschlossenem Maule kommen, alle ihre Wolle verlieren und nackt fortgehen.
Unter diesen beiden wilden Tieren sind zwei Könige zu verstehen, nämlich die von Frankreich und England. Der eine König ist nicht satt zu kriegen, denn er führt Krieg um seiner Gier willen. Der andere König versucht aufzusteigen, und also sind beide voll vom Feuer des Zornes und der Gier.

Die Stimme der wilden Tiere ist so: „Nimm Gold und die Reichtümer der Welt entgegen, damit du nicht das Blut der Christen verschonst.“ Jedes dieser wilden Tiere wünscht den Tod des anderen, und daher sucht ein jedes den Platz des anderen, um ihm zu schaden. Es wünscht, dass sein Unrecht wie Gerechtigkeit lauten soll, und dass die Gerechtigkeit des anderen Unrecht genannt wird.
Die anderen Tiere, die mit offenem Maul ankommen, das sind die, die auf Grund von Gier zu ihnen kommen. Ihre offnen Mäuler werden von denen gefüllt, die zwar Könige genannt werden, aber in Wirklichkeit Verräter sind.

Sie werfen nämlich Geld und Gaben im Überfluss in ihr Maul und machen sie auf diese Weise derart kriegslüstern, so dass sie dadurch tot niederfallen. Ihre Güter bleiben übrig, aber ihre Leiber werden von der Erde aufgenommen, die Würmer nagen an ihrem Herz, und die Teufel nehmen ihre Seelen. Und so rauben diese beiden Könige meinem Sohn viele Seelen, der sie doch mit seinem Blut erlöst hat.
Aber die Tiere, die ihrer Wolle beraubt werden, sind einfältige Menschen, die sich mit ihrem Hab und Gut begnügen. Sie gehen in dem Glauben in den Krieg, dass sie das Recht auf ihrer Seite haben, und dass der Krieg gerecht ist, und daher verlieren sie ihre Wolle, nämlich ihre Leiber, durch den Tod. Aber ihre Seelen werden in den Himmel aufgenommen. Deshalb, mein Sohn, erbarme dich ihrer!“

Der Sohn erwiderte: „Weil du alles in mir siehst, magst du sagen, während diese anwesende Braut zuhört: Was für eine Gerechtigkeit ist das, dass diese Könige erhört werden?“ Und die Mutter antwortete: „Ich höre drei Stimmen. Die erste Stimme ist die von diesen Königen. Einer von ihnen denkt so: „Wenn ich das Meine hätte, würde ich mich nicht darum kümmern, etwas anderes zu haben, aber ich fürchte, alles zu verlieren.“ Und aus dieser Furcht heraus (er fürchtet nämlich die Schmach der Welt) wendet er sich an mich mit den Worten: „O Maria, bitte für mich!“ Aber der andere König denkt so: „O dass ich in meiner früheren Stellung wäre! Ich bin müde.“ Deshalb wendet auch er sich an mich.

Die andere Stimme ist die des Volkes, das mich Tag für Tag um Frieden bittet. Die dritte Stimme ist die deiner Auserwählten. Diese rufen: „Wir beweinen nicht die Leiber der Toten, nicht die Schäden, nicht die Armut, sondern die gefallenen Seelen, die täglich in Gefahr schweben. Bitte daher, unsere Frau, deinen Sohn, dass die Seelen gerettet werden mögen!“
Deshalb, mein Sohn, erbarme dich ihrer!“ Der Sohn erwiderte: „Es steht geschrieben, dass dem, der anklopft, geöffnet werden soll, dass der, der ruft, Antwort erhalten soll, und dass der, der bittet, es bekommen soll. Aber so wie jeder, der anklopft, draußen vor der Tür steht, so stehen auch diese Könige draußen vor der Tür, denn mich haben sie nicht in sich. Dennoch soll um deinetwillen denen, die bitten, geöffnet werden.“