107. Kapitel

Ein Engel von wunderbarer Schönheit zeigte sich. Andere Engel sprachen mit ihm und sagten: „Freund, warum bietest Du unserem Gott eine leere Nuss an?“ Er antwortete: „Wenn ihr auch alles wisst, spreche ich doch um ihretwillen, die hier steht. Ich empfinde niemals Trübsal, da ich ständig die Nähe unseres Gottes genieße. Seinen Willen erfülle ich zur Vervollkommnung der Seelen so, dass ich nie seine Nähe entbehre. Auch wenn ich ihm keine wohlschmeckende Nuss anbiete, bringe ich doch etwas Liebliches und Angenehmes, nämlich einen Schlüssel von reinstem Gold, ein Silbergefäß und eine Krone von kostbaren Steinen.

Der Schlüssel bezeichnet eine aufrichtige Reue über die Sünden; eine solche öffnet Gottes Herz und leitet den Sünder zu Gottes Herz. Das Gefäß ist das göttliche Vergnügen und die Liebe, in der Gott lieblich mit der Seele weilt. Die Krone ist der beständige und frohe Gehorsam. Diese drei Dinge fordert mein Gott von der frommen Seele. Aber wenn auch diese Seele, die meiner Obhut anvertraut ist, sie verachtet hat, gebe ich Gott doch das zurück, was die Seele ihm angeboten hat; Gottes Ehre, und darum doch nicht weniger.

Der Schlüssel der Reue erscheint dieser Seele leidet so mühsam, dass sie nicht einmal daran denken will. Das Gefäß der Gottesliebe ist ihr so bitter, dass sie seinen Wohlgeruch absolut nicht vertragen kann. Denn wie könnte die geistliche Süße ihr lieblich vorkommen, wenn die Wollust des Fleisches in ihr so tief verwurzelt ist? Zwei Entgegengesetzte Dinge können sich ein und demselben Gefäß nicht vertragen. Die Krone des Gehorsams fällt ihr schwer zu tragen, denn ihr Eigenwillen gefällt ihr so gut, dass es ihr behaglicher scheint, ihm statt Gottes Willen zu folgten.“

Danach wandte sich der Engel an Gott und sagte: „Herr, sieh hier das Gefäß, den Schlüssel und die Krone, deren sich diese Seele unwürdig gemacht hat. Wenn die Schale zerbricht, wird sichtbar, dass sie innen voll von Schmutz ist, obwohl sie voll von süßestem Honig hätte sein sollen. Aber in der Schale liegt eine Schlange. Die Schale ist das Herz, und wenn sie im Tode bricht, zeigt sie sich voll von weltlichem Begehren, das wie Schmutz ist. Die Schlange ist die Seele, die klarer als die Sonne leuchten und heißer als die Flamme glühen sollte, aber die jetzt eine Schlange geworden ist, gefüllt mit Gift und schädlich und Verderben bringend für sich selbst allein.“

Nun sprach der Herr zur Braut und sagte: „Ich will dir durch ein Gleichnis sagen, wie dieser Mann beschaffen ist. Es war ein Mann, der stand, und ein anderer, der ihm entgegenkam. Beide hatten das Gesicht einander zugewandt. Der, der sich nahte, sagte: „Herr, es ist ein Zwischenraum zwischen uns. Zeig mir den Weg, auf dem ich gehen soll! Ich sehe ja, dass du der unvergleichlich Mächtigste bist, der ohne alles Erwägen Lieblichste und der Beste von allen bist, ja der, von dem alles Gute stammt, und ohne den nichts gut ist.“

Der andere erwiderte: „Freunde, ich erde dir einen dreifachen Weg zeigen, der aber in einen mündet. Folge dem! Er ist zu Anfang steinig, aber am Ende ganz eben. Er ist dunkel, wenn du anfängst, ihn zu gehen, aber er wird weiter hin sehr hell. Er ist eine Zeitlang bitter, wird aber zu guter letzt höchst lieblich.“ Er sagte: „Zeig mir nur den Weg, so werde ich ihm willig folgen! Ich sehe nämlich, dass es gefährlich ist, zu zögern, und schlimm, vom Wege abzuirren, aber äußerst nützlich, ihm zu folgen. Erfülle daher mein Begehren und zeigte mir den richtigen Weg!“
Ich, der Schöpfer aller Dinge, ist der, der unveränderlich und unerschütterlich steht. Dieser Mann kam auf mich zu, als er mich liebte und nichts anderes so sehr begehrte, wie mich. Ich wandte ihm mein Antlitz zu, als ich göttlichen Trost in seiner Seele erweckte, und als ihm die Freude der Welt und alle fleischlich Lust verhasst wurde.

Ich zeigte ihm einen dreifachen Weg, indem ich nicht mit menschlicher Stimme sprach, sondern heimlich seine Seele in derselben Weise inspirierte, wie ich jetzt deine Seele offen inspiriere. Erstens zeigte sich ihm nämlich, dass er nur seinem Gott und seinem Vorgesetzten gehorsam sein soll, aber er antwortete mir im Stillen, indem er so in seinem Sinn dachte: „Das tue ich nicht, denn mein Vorgesetzter ist hart und nicht liebvoll, und deshalb kann ich ihm nicht mit frohem Willen gehorchen.“

Ich zeigte ihm den anderen Weg, der darin besteht, vor der Lust des Fleisches zu fliehen und meinem göttlichen Willen zu folgen, die Schwelgerei zu fliehen und Enthaltsamkeit zu üben. Diese Wege führen nämlich zum wahren Gehorsam. Er antworte mir jedoch: „Auf keinen Fall! Meine natur ist schwach, und deshalb muss ich so viel essen und schlafen, wie ich brauche, muss reden, um dadurch Freude zu haben, und lachen, um meinen Sinn zu erleichtern.“

Ich zeigte ihm auch den dritten Weg, der darin besteht, um meinetwillen, seinen Gott, gute Geduld zu haben. Geduld führt nämlich zu Enthaltsamkeit und frommen Gehorsam. Aber er antwortete mir: „Das tue ich nicht. Wenn ich den Schimpf ertrage, der mir widerfährt, so komme ich dazu, als dumm angesehen zu werden. Wenn ich einfacher gekleidet bin als andere, werde ich für dumm angesehen. Und wenn es eine Unvollkommenheit in meinen Gliedern gibt, so ist es doch notwendig, dass ich etwas tue, um den Menschen zu gefallen, so dass dieser Mangel ausgeglichen wird.“

„So kämpften wir“, sagte der Herr, „ich und sein Gewissen, bis er sich von mir entfernte und mir den Rücken zuwandte und nicht das Gesicht. Das tat er, als er nur in dem gehorchen wollte, was ihm behagte, und geduldig nur unter der Bedingung sein wollte, dass er nichts von der Freundschaft der Welt verlöre. Nun arbeitet der Teufel darauf hin, ihn völlig blind und stumm zu machen, und versucht, seine Hände und Füße zu fesseln, und ihn ins Dunkel der Hölle zu führen.

Der Teufel macht den Mann blind, wenn dieser denkt: „Gott hat mich mit seinem Leiden erlöst. Er will mich nicht verloren gehen lassen, denn er ist barmherzig. Auch wenn der Mensch ihn jede Stunde kränkt, untersucht Gott die Sünde nicht so streng.“ Daraus geht hervor, dass sein Glaube nicht stetig ist. Er kann ja in meinem Evangelium finden, dass ich Rechenschaft über jedes Wort verlange – wie viel mehr dann über Taten! Und da kann er auch finden, dass der reich Mann sein Grab in der Hölle bekam, nicht weil er geraubt hat, sondern weil er das, was ihm verliehen ist, schlecht benutzt hat. – Der Teufel macht diesen Mann stumm, wenn er das Beispiel und die Worte meiner Freunde hört, aber sagt, dass jetzt niemand mehr so leben kann. Daraus geht hervor, dass er nur eine geringe Hoffnung hat. Denn ich, der meinen Freunden vergönnt hat, ein gutes und keusches Leben zu führen, ich wäre auch imstande, ihm das zu gönnen, wenn er auf mich hoffen würde. Der Teufel bindet ihm die Hände, wenn er etwas anderes mehr liebt als mich und inniger mit der Welt verbunden ist, als mit meiner Ehre.

Er soll also darauf achten, dass der Teufel ihn nicht zu Fall bringt, wenn er nach weltlichen Dingen trachtet, denn dieser legt seine Schlinge aus, wo man am wenigsten vorsichtig ist. Der Teufel fesselt seine Füße, wenn er nicht auf seine Gedanken und Gefühle Acht gibt oder die Art und Weise bedenkt, in der er versucht werden kann, und wenn er so nach seinem eigenen Nutzen und nach dem seines Nächsten trachtet, dass er nicht mehr aus das Wohlergehen seiner Seele achtet.

Deshalb sollte er bedenken, was ich im Evangelium gesagt habe, dass der Mann, der seine Hand an den Pflug legt, nicht zurückblicken soll, und dass der, der etwas sehr Nützliches begonnen hat, nicht zu dem zurückkehren soll, was weniger nützlich ist. Der Teufel legt ein Band um sein Herz, wenn er den Willen des Menschen geneigt zum Bösen macht, dass er daran denkt, die Ehre der Welt zu genießen und sie ausnutzen will, ja dass er weiter auf diese Art leben will.

Der Teufel führt ihn schließlich ins Dunkel, wenn er denkt: „Ich kümmere mich wenig darum, wie weit mein Los auf die Herrlichkeit oder die Straße fällt.“ Wehe ihn, wenn er in einem solchen Dunkel landet! Wenn er sich zu mir umwenden will, werde ich ihm jedoch wie ein Vater entgegeneilen. Aber dann wird nun auch verlangt, dass er den Willen hat, selbst das zu tun, was er kann. Denn so, wie es dem Sohn des Mannes nicht erlaubt ist, jemand gegen seinen eigenen Willen zur Frau zu nehmen, so ist dies auch für den Sohn der Jungfrau nicht möglich.

Der Wille ist nämlich das Werkzeug, mit dem die göttliche Liebe in die Seele geleitet wird. Denn wie ein Müller, der Mühlsteine spalten will, Risse in den Steinen aufsucht, wo er erst die feineren Instrumente und dann die gröberen ansetzt, bis der Stein mitten durchbricht, so suche ich den guten Willen, in den ich meine Gnade eingieße. Dann, wenn die Taten größer werden und der Wille Fortschritte macht, erhöht sich auch die Gnade, bis sich sein Herz aus Stein in ein Herz aus Fleisch und Blut wandelt, und das Herz aus Fleisch und Blut in ein geistliches Herz.“

Erklärung
Dieser Man war Prior auf Sizilien nahe dem Ätna. An ihn wurde folgende Offenbarung gerichtet.
Zusatz
Gottes Sohn spricht: „Dieser Bruder wundert sich, warum meine Apostel Petrus und Paulus so lange Zeit in den Katakomben weilten, fast vergessen. Ich gebe dir folgende Antwort: „Die goldene Schrift sagt, dass die Kinder Israel so lange in der Wüste weilten, weil das Böse bei den Heiden, deren Land sie besitzen sollten, noch nicht aufgehört hatte.
So verhielt es sich auch mit meinen Aposteln. Noch war die Zeit der Gnade nicht gekommen, da die Leiber meiner Apostel erhöht werden sollten, denn erst sollte die Zeit der Prüfung und dann erst die der Krönung kommen, und noch waren die nicht geboren, die das Glück der Erhöhung der Apostel erleben sollten.

Aber nun kannst du fragen, wie weit ihre Leiber während der Zeit, da sie unter der Erde ruhten, irgendeine Ehre genossen. Ich antworte dir, dass meine Engel ihre seligen Leiber bewachten und ehrten. Denn so wie ein Mann den Platz, an dem Rosen und andere Kräuter wachsen, sorgsam pflegt, so wurden lange im voraus diese Katakomben angelegt und geehrt, über die sich Engel und Menschen freuen sollten.

Auf der Welt gibt es viele Plätze, wo Leiber der Heiligen ruhen, aber keine solche wie dieser Platz. Denn wenn man die Heiligen aufzählen würde, deren Leiber da bestattet sind, würde man das kaum glauben. Daher sollen, so wie ein kranker Mensch durch guten Duft und Nahrung erquickt wird, die Menschen, die mit aufrichtigem Sinn an diesen Platz kommen, geistlich erquickt werden und wahre Vergebung für ihre Sünden erhalten, ein jeder nach seinem Leben und seinem Glauben.“

Derselbe Bruder wurde bei den Worten Birgittas von tiefer Reue ergriffen. Er hörte drei Nächte hintereinander eine Stimme sagen: „Eile dich, eile dich, komm, komm!“ Am vierten Tage wurde er krank, nahm das Sakrament und starb. Das geschah in Rom.