20. Kapitel

Agnes spricht: „O Tochter, steh fest und weiche nicht zurück, denn eine stechende Schlange liegt hinter deinen Fersen, und geh auch nicht weiter voran als nötig ist, denn eine scharfe Speerspitze liegt vor dir, und von der wirst du verwundet werden, wenn du weiter vorgehst, als richtig ist.
Aber was heißt das, zurückzuweichen, wenn man nicht in der Stunde der Versuchung bereut, dass man einen strengeren und gesunden Wandel eingeschlagen hat, aber doch wieder zum dem Altgewohnten zurückkehren will und die Sinne sich an schmutzigen Gedanken erfreuen lässt? Wenn so etwas dem Sinn gefällt, so verdunkelt das alles Gute und zieht das Verlangen ganz allmählich von allem Guten ab.

Und du sollst auch nicht weiter vorangehen, als angemessen ist, d.h. dich über deine Kräfte anstrengen oder anderen in guten Taten mehr nachzueifern, als in der Kraft deiner Natur liegt. Denn Gott hat von Ewigkeit verordnet, dass der Himmel für Sünder durch Werke der Liebe und der Demut offen gelassen wird, wobei Maß und Überlegung bei allem eingehalten wird.

Aber nun rät der missgünstige Teufel dem unvollkommenen Menschen, über seine Kräfte zu fasten, ungewöhnliche und undurchführbare Dinge zu versprechen und dem nachzueifern, was vollkommen ist, indem er seine schwachen Kräfte nicht berücksichtigt, und die Folge ist, dass der Mensch das schlecht begonnene Werk mit immer schwächeren Kräften fortsetzt – mehr aus Scham vor den Menschen als für Gott, oder dass er auch bald durch Unklugheit und Schwäche ermattet.

Deshalb magst du dich selber an dir selber messen, d.h. auf deine Stärke und Schwachheit Acht geben, denn manche sind von Natur aus stärker, andere schwächer. Manche brennen durch Gottes Gnade mehr, andere sind aus guter Gewohnheit eifriger. Daher solltest du dein Leben nach ihrem Rat einrichten, damit dich nicht die Schlange sticht, weil du dich vorher nicht besinnst, oder die Spitze des vergifteten Schwertes, d.h. die höchst giftige Eingebung des Teufels, kann deinen Sinn betrügen, so dass du entweder das scheinen willst, was du gar nicht bist, oder etwas haben möchtest, was über deine Kräfte und deine Macht geht.

Es gibt nämlich manche, die glauben, das Himmelreich durch ihre Verdienste zu gewinnen, und die verschont Gott durch seinen heimlichen Ratschluss vor den Versuchungen des Teufels. Es gibt andere, die glauben, mit ihren Werken vor Gott gutzumachen, was sie gesündigt haben, und dieser ganze Irrtum von ihnen ist verwerflich. Denn auch wenn der Mensch seinen Leib hundertmal töten würde, könnte er bei Gott nicht eins für tausend wiedergutmachen, denn Er verleiht das Können und den Willen, Er schenkt die Zeiten und Gesundheit. Er ist es, der erhöht und demütigt, und alles ist in seine Hände gelegt. Dafür soll nur ihm Ehre erwiesen werden, und keine Menschenverdienste gelten vor Gott etwas.

Aber nun möchtest du über die Frau Bescheid wissen, die gekommen war, um Vergebung ihrer Sünden zu erlangen, aber verführt wurde. Ich antwortete dir: Es gibt manche Frauen, die enthaltsam leben, aber doch den Menschen nicht lieben, der keine großen Wünsche hat oder gewaltsam versucht wird, und der gern mit einer ehrenhaften Ehe einverstanden wäre, wenn sie sich ihm bieten würde, der aber – da das Große ihm nicht angeboten wird – das Kleine nun verschmäht.

Deshalb gibt die Enthaltsamkeit manchmal Anlass zu Hochmut und Vermessenheit, weshalb es auch mit Gottes Zulassung geschieht, dass sie fallen, wie du ja auch hörtest. Aber wenn jemand die Absicht hat, dass er um alles in der Welt nicht ein einziges Mal beschmutzt werden will, so wäre es ja auch unmöglich, dass ein solcher schändlichen Dingen anheim fallen würde. Wenn Gott in seiner verborgenen Gerechtigkeit zulassen würde, dass ein solcher Mensch fällt, so würde ihn dies mehr zur Belohnung als zur Sünde führen, wenn es gegen seinen Willen passieren würde.

Deshalb sollst du sicher wissen, dass Gott so wie ein Adler ist, der von der Höhe auf das niedrige blickt, und der sich, wenn er etwas von der Erde aufsteigen sieht, gleich wie ein geschleuderter Stein darauf stürzt. Wenn der Adler etwas Giftiges oder ihm Feindliches sieht, so durchbohrt er es wie ein Pfeil, und wenn etwas Unreines von oben auf ihn tropft, schüttelt er es heftig ab, wie die Gans es tut, und entfernt es von sich. So macht es auch Gott, wenn er sieht, dass sich das Herz der Menschen entweder durch die Gebrechlichkeit des Fleisches oder die Versuchungen des Teufels gegen den Willen des Geistes gegen Gott auflehnen will.

Durch Eingebung von Reue und Buße macht Gott das gleich wie ein geschleuderter Stein zunichte und bewirkt, dass der Mensch zu Gott und zu sich selbst zurückkehrt. Und wenn das Gift des fleischlichen Begehrens oder nach Reichtum ins Herz eindringt, so durchbohrt Gott gleich den Sinn mit dem Pfeil seiner Liebe, so dass der Mensch nicht in seiner Sünde beharrt und von Gott getrennt wird. Und wenn etwas von der Unreinheit des Hochmuts oder vom Schmutz der Wollust die Seele besudelt hat, so wirft er dies sogleich wie eine Gans durch die Standhaftigkeit des Glaubens und der Hoffnung fort, damit die Seele nicht in ihren Lastern verharrt, oder die mit Gott vereinte Seele angesteckt wird. Deshalb sollst du, meine Tochter, bei all deinem Begehren und deinen Werken Gottes Barmherzigkeit und Gerechtigkeit betrachten und stets dein Ende bedenken.“