Zehnter Fragenkreis

Erste Frage: Wieder zeigte sich der Mönch auf seiner Leiter wie vorher und sagte: „O Richter, ich frage dich: Wie konntest du, der am allermächtigsten, am schönsten und tugendreichsten ist, und der klarer als die Sonne in deiner Gottheit strahlt – dich in einen solchen Sack wie deine Menschengestalt kleiden?“

Zweite Frage: „Und wie kann es kommen, dass deine Gottheit alles in sich schließt und doch von niemandem beschlossen wird, dass du alles umfasst und doch von niemandem umfasst wirst?“

Dritte Frage: „Und warum wolltest du so lange im Schoß der Jungfrau weilen, und warum kamst du nicht gleich hervor, nachdem du empfangen wurdest?“

Vierte Frage: „Und warum zeigtest du, der alles kann und überall gegenwärtig ist, dich nicht gleich in der Gestalt, die du in deinem 30. Lebensjahr hattest?“

Fünfte Frage: „Und warum wolltest du, dessen Vater nicht von Abrahams Samen war, dich beschneiden lassen?“

Antwort auf die 1. Frage.
Der Richter antwortete ihm: „Mein Freund, ich will dir mit einem Gleichnis antworten. Es gibt eine Art Weintrauben, deren Wein so stark ist, dass er ohne Zutun des Menschen aus den Trauben herausdringt. Wenn der Besitzer sieht, dass die Zeit der Reife gekommen ist, setzt er einen Bottich darunter. Der Wein wartet aber nicht auf den Bottich, sondern der Bottich auf den Wein. Und wenn mehrere Gefäße daruntergesetzt werden, so fließt der Wein in das Gefäß, das am nächsten ist.

Diese Weintraube ist meine Gottheit, der so voll vom Wein der göttlichen Liebe ist, dass alle Engelchöre damit erfüllt werden, und alles, was es auch ist, daran Teil erhält. Durch seinen Ungehorsam machte der Mensch sich aber dieses Weines unwürdig. Als daher Gott, mein Vater, zu einer von Ewigkeit vorherbestimmten Zeit seine Liebe zutage treten lassen wollte, schickte er seinen Wein, d.h. mich, seinen Sohn, in das Gefäß, das am nächsten stand und das Kommen des Weins am meisten erwartete, d.h. in den Mutterleib der Jungfrau, die mich inniger liebte, als alle anderen Geschöpfe.

Diese Jungfrau liebte und begehrte mich so warm, dass es keine Stunde gab, dass sie mich nicht begehrte und sich danach sehnte, meine Dienerin zu werden. Daher erhielt sie den ausgewählten Wein, der drei Eigenschaften hatte: Erstens Stärke, nachdem ich ohne menschliche Einwirkung herauskam, zweitens die schönste Farbe, nachdem ich, der Allerschönste, von der Himmelshöhe herabstieg, um zu streiten, drittens die üppigste Süße, die mit dem größten Segen berauscht. Dieser Wein, der ich selbst bin, ging in den Leib der Jungfrau ein, denn ich, der unsichtbare Gott, wurde sichtbar, damit der verlorene Mensch erlöst würde.

Sicher hätte ich eine andere Gestalt annehmen können, aber das wäre gegen die Gerechtigkeit gewesen, denn eine Gestalt sollte für eine andere gegeben werden, eine Natur für eine andere, und die Art der Erfüllung nach der Art der Schuld. Wer von den Weisen hätte glauben oder raten können, dass ich, der allmächtige Gott, mich so tief demütigen wollte, dass ich den Sack der Menschengestalt annehmen wollte, wenn nicht diese meine unergründliche Liebe gewesen wäre, diese Liebe, die mich fähig machte, sichtbar unter den Menschen zu leben?

Nachdem ich die Jungfrau von so inniger Liebe brennen sah, wurde meine göttliche Strenge besiegt, und meine Liebe trat zutage, damit der Mensch sich mit mir versöhnen sollte. Ist es da verwunderlich, dass ich, Gott, der die Liebe selbst ist und der nichts von dem haßt, was ich geschaffen habe, nicht nur beschloß, dem Menschen die üppigsten Gaben zu schenken, sondern sogar mich selbst zum Preis und zur Belohnung, damit alle hochmütigen Dämonen sich schämen sollten?“

Antwort auf die 2. Frage.
„Auf die Frage, wie meine Gottheit alles in sich schließen kann, antworte ich weiter: Ich Gott, bin Geist. Ich rede, und es ist getan, ich befehle, und alles gehorcht mir. Ich bin es, der allem das Dasein und das Leben gibt. Ehe ich den Himmel, die Berge und die Erde geschaffen habe, war ich in mir selbst. Ich bin über allem, außerhalb von allem und innerhalb von allem. In mir ist alles, und ohne mich ist nichts. Und während mein Geist weht, wo er will, alles kann und vermag, was er will, alles weiß, schneller und leichter ist als alle anderen Geister, alle Kraft hat und alles Gegenwärtige, das Vergangene und Zukünftige betrachtet, deshalb ist mein Geist, d.h. meine Gottheit, mit Recht unfassbar, und doch umfasst er alles.“

Antwort auf die 3. Frage.
„Auf die Frage, warum ich so lange im Schoß der Jungfrau weilte, antworte ich weiter: Ich bin der Schöpfer aller Natur, und für jede Natur habe ich eine gebührende Weise, Zeit und Ordnung vorgeschrieben, geboren zu werden. Wenn ich, der Schöpfer, nun aus dem Mutterleib hervorgegangen wäre, nachdem ich empfangen wurde, so hätte ich im Widerstreit mit der natürlichen Ordnung gehandelt, und dass ich Menschengestalt annahm, wäre dann nur sagenhaft und nicht echt gewesen. Ich wollte also ebenso lange Zeit im Mutterleib sein, wie andere Kinder, um auch in mir selbst die Ordnung der Natur zu erfüllen, die ich wohlweislich eingerichtet habe.“

Antwort auf die 4. Frage.
„Auf die Frage, warum ich nicht gleich bei meiner Geburt so groß am Körper wie bei meinem 30. Jahr gewesen bin, antworte ich weiter: Wenn das der Fall gewesen wäre, hätten sich alle gewundert und mich gefürchtet, und sie wären mir mehr aus Furcht und wegen der Wundertaten gefolgt, die sie sahen, als aus Liebe. Und wie hätten dann die Aussagen der Propheten erfüllt werden können? Sie hatten ja vorausgesagt, dass ich wie ein Knäblein unter den Tieren in einer Krippe liegen würde, von Königen angebetet würde, im Tempel dargestellt und von meinen Feinden verfolgt werden würde. Um zu beweisen, dass meine Menschlichkeit wirklich war und dass die Aussagen der Propheten über mich in Erfüllung gehen würden, wuchs ich so allmählich mit meinen Gliedern heran, ich, der ich doch bei meiner Geburt ebenso voller Weisheit war, wie bei meinem Ende.“

Antwort auf die 5. Frage.
„Auf die Frage, warum ich beschnitten wurde, antworte ich weiter: Obwohl ich väterlicherseits nicht von Abrahams Geschlecht war, war ich es doch mütterlicherseits, wenn auch ohne Sünde. Das Gesetz, was ich als Gott gestiftet hatte, wollte ich auch als Mensch einhalten, damit meine Feinde mich nicht anklagen konnten, das befohlen zu haben, was ich selber nicht erfüllen wollte.“

Antwort auf die 6. Frage.
„Auf die Frage, warum ich mich taufen lassen wollte, antworte ich weiter: Ein jeder, der einen neuen Weg begründen oder beginnen will, muß selbst auf diesem Weg vorangehen. Nun hatte das Judenvolk einen fleischlichen Weg erhalten, nämlich die Beschneidung, zum Zeichen des Gehorsams und der zukünftigen Reinigung; bei den Gläubigen und Gesetzestreuen bewirkte der, ehe die verheißene Wahrheit (d.h. ich, Gottes Sohn) kam, etwas von der kommenden Gnade und Erfüllung der Verheißung.

Aber es war von Ewigkeit her bestimmt, dass – da das Gesetz nichts anderes war, als ein Schatten, der alte Weg verschwinden und seine Wirkung verlieren sollte, als die Wahrheit kam. Damit die Wahrheit hervortreten, der Schatten weichen und ein leichterer Weg zum Himmel gezeigt würde, wollte ich, Gott und Mensch, geboren ohne Sünde, mich taufen lassen – aus Demut und zu einem Beispiel für andere, und um den Himmel für die Gläubigen zu öffnen.

Zum Zeichen dafür öffnete sich der Himmel, als ich getauft war, die Stimme des Vaters war zu hören, und der heilige Geist offenbarte sich in Taubengestalt. Und ich, Gottes Sohn, zeigte mich in wirklicher Menschengestalt, damit die Christgläubigen wissen und glauben sollten, dass der Vater den Himmel für die getauften Gläubigen öffnet.

Der Heilige Geist ist mit dem Taufenden, und die Kraft meiner Menschlichkeit ist im Element, wie auch die Wirksamkeit und der Wille meines Vaters, die meine und die des Heiligen Geistes ein und derselbe ist. Als die Wahrheit, d.h. als ich, der die Wahrheit ist, auf die Welt kam, da verschwand gleich der Schatten, die Schale des Gesetzes wurde zerbrochen, und der Kern kam zum Vorschein. Die Beschneidung hörte auf, und in mir wurde die Taufe bestätigt, wodurch das Himmelreich für Alt und Jung geöffnet wird, und Kinder des Zornes Kinder der Gnade und des ewigen Lebens werden.“