Einleitung Buch 8

In einem langen Vorwort, genannt Epistola solitarii (Brief des Eremiten – der Verfasser war nämlich Eremit des Hieronymus-Ordens) berichtet Alfons da Vadaterra, Birgittas Freund und Beichtvater, von der Art, wie Birgitta ihre Offenbarungen empfing, und verteidigt den himmlischen Ursprung der Offenbarungen. Man darf Offenbarungen, die wirklich von oben stammen, nicht voreilig ablehnen, sagt er, wenn sie auch durch ungebildete Frauen vermittel werden. Wie schlecht erging es doch dem Pharao, der sich weigerte, Moses Worte Glauben zu schenken?

Alfons kennt viele Personen in seiner eigenen Zeit, die himmlische Botschaften missachtet haben, die durch schlichte, ungebildete Menschen vorgebracht wurden, und denen es deshalb schlecht gegangen ist. Als Kriterien für die Echtheit der Visionen führt er folgende Umstände an: Dass der Visionär selbst ein frommer, geistlich gesinnter Mensch ist, der in Gehorsam unter einem geistlichen Führer lebt, seine inneren Erlebnisse diesem stets anvertraut und sich nicht über andere wegen seiner Visionen überhebt; dass er fromm die Vorschriften der Kirche befolgt und ein enthaltsames, bußfertiges Leben führt, und dass er im übrigen einen guten Verstand und ein gesundes Urteil besitzt.

Man muss untersuchen, wie weit der Inhalt der Visionen mit der Heiligen Schrift übereinstimmt, wie weit sie geeignet sind, gute Sitten zu befördern, und wie weit sie die Hörer zu Hochmut und Vertrauen auf sich selbst oder zu Demut und Gehorsam ermuntern. Auf die Weise kann man erkennen, wie weit sie vom guten oder bösen Geist stammen.

Was die hl. Birgitta betrifft, war sie von vornehmer Abstammung, lebte fromm in ihrer Ehe, gelobte nach dem Tode ihres Mannes, ganz Christus anzugehören, und wurde von diesem als Braut angenommen. Bei dieser Gelegenheit fing sie an, Offenbarungen zu empfangen, und die unterwarf sie dem Urteil ihres geistlichen Führers, Magister Matthias, und auch mehreren anderen gelehrten und weisen Priestern. Diese untersuchten die Visionen und fanden, dass sie vom Geist der Wahrheit herrührten.

Sie selbst wollte arm dem armen Christus folgen, verteilte deshalb ihr Eigentum, verließ ihr Land und pilgerte nach Rom, wo sie in Gesellschaft mit erfahrenen geistlichen Vätern und Jungfrauen ein frommes Leben führte. Der eine ihrer geistlichen Führer war Zisterzienserprior; er war es, der ihre Offenbarungen lateinisch niederschrieb, von ihr selbst altschwedisch diktiert „lingua sua gothica“ – hiermit meint Alfons den Petrus von Alvastra.

Der andere war ein Priester aus Schweden, und er war es, der ihren Haushalt führte und sie und ihre Tochter in Latein unterrichtete; damit meint Alfons den Petrus von Skänninge. Diesen beiden gehorchte sie in allem. Täglich beichtete sie, und jeden Sonntag ging sie mit ihrer Tochter zur Kommunion. Ihr Leben war gekennzeichnet von strengster Askese, doch folgte sie hierbei den Vorschriften ihrer geistlichen Führer, und ihnen erzählte sie alle ihre Offenbarungen. Sie wunderte sich stets darüber, dass Christus geruhte, seine Botschaft einem so unwürdigen Geschöpf wie sie anzuvertrauen. In ihrer Demut hätte sie lieber ihre Offenbarungen verheimlicht, aber Christus befahl ihr, sie zur Besserung der Könige und des Volkes zu veröffentlichen.

Wie Birgitta ihre Offenbarungen empfing, das hat sie selbst berichtet, u.a. VI, 52. Alfons hat sie oft im Gebet versunken gesehen, ohne zu wissen, was um sie herum vorging, und des Gebrauchs der körperlichen Sinne beraubt. Wenn sie wieder zu sich kam, erzählte sie Alfons, Petrus von Alvastra oder Petrus von Skänninge, was sie in der Ekstase erlebt hatte. Ihr Herz war während der Ekstase erfüllt von Liebesglut, und ihr Intellekt wurde erleuchtet, so dass er geistliche Dinge verstand. Manchmal sah Birgitta in ihren Visionen körperliche Gestalten, und oft – aber nicht immer, wurde sie über deren Bedeutung unterrichtet.

Ihre Offenbarungen empfing sie zum Nutzen der ganzen Kirche. Manchmal wurde ihr, während sie eine Gestalt sah, eine Unterweisung über den Inhalt der Glaubensmysterien mitgeteilt, oder es wurden ihr Regeln für die Lebensführung gegeben. Mit ihren leiblichen Augen sah sie den Engel, der ihr den Sermo angelicus diktierte. Mit leiblichen Augen sah sie auch Christus und Maria. Meistens hörte sie aber deren Stimmen, ohne sie zu sehen. Stets verspürte sie dabei eine liebliche Süßigkeit. Sie vertraute das Alfons unter Tränen und Seufzen an.

Alfons folgte der Lehre der Kirche, wenn er Visionen in körperliche, imaginäre und intellektuelle einteilt. Bei einer körperlichen Vision sieht man etwas mit den Augen des Leibes. Bei einer imaginären sieht man im Geist körperliche Gestalten, die eine bestimmte symbolische Bedeutung haben. Bei einer intellektuellen werden dem Verstand übernatürliche Wahrheiten ohne Hilfe von Bildern vermittelt. Bei manchen Gelegenheiten hat Birgitta körperliche Visionen gehabt, z.B. als sie bei einer Verlobung sah, wie ihr von der Jungfrau Maria geholfen wurde, oder als sie auf dem Totenbett Christus an ihrer Seite sah.

Meistens sind es jedoch imaginäre oder intellektuelle Visionen, um die es sich handelt. Solche hatte sie im Wachzustand. Die Süßigkeit, die sie da schmeckte, hätte der Teufel ihr nicht geben können; die ist also ein Kriterium für den göttlichen Ursprung der Vision. Ihre Seele wurde sozusagen erweckt, himmlische, göttliche oder geistliche Dinge zu sehen, zu hören und zu spüren. Im Geist sah sie Bilder und hörte Stimmen. Ihr Intellekt wurde auf himmlische Weise erleuchtet, und sie erhielt Unterweisung zum Wohle der Menschen.

Alfons zählt sieben verschiedene Möglichkeiten auf, authentische himmlische Offenbarungen von solchen zu unterscheiden, die vom bösen Geist eingegeben wurden. Das erste Zeichen für den himmlischen Ursprung einer Offenbarung besteht in der Demut des Visionärs und seinem Gehorsam gegenüber den kirchlichen Behörden. Ein zweites Zeichen besteht darin, dass der Visionär, solange die Vision andauert, die Süße der Gottesliebe erfährt, ja sich sozusagen davon berauscht fühlt. Das dritte Zeichen besteht darin, dass der Intellekt während der Vision wirklich erleuchtet wird, so dass die Seele erfasst, was gesagt wird, und was sie hört.

Das vierte Zeichen besteht in der Übereinstimmung der Aussagen des Visionärs mit der katholischen Glaubens- und Sittenlehre und darin, dass die Voraussagen wirklich eingetroffen sind. Das fünfte Zeichen liegt in der Frucht der Visionen – führen die Visionen zu einer sittlichen Verbesserung oder nicht? Wird der Verstand erleuchtet, die Sitten gebessert, der Frieden gesichert, die Gottesliebe vermehrt?

Das sechste Zeichen ist der Fromme, christliche Tod des Visionärs. Das siebente Zeichen besteht aus den einhelligen Berichten (? helbrägdagörelserna) nach seinem Tod. Alle diese Kriterien treffen bei Birgitta und ihren Offenbarungen zu. Man kann also über den himmlischen Ursprung ihrer Offenbarungen sicher sein, und man muss Gott dafür danken, schließt Alfons.