6. Kapitel

Der heiligen Paulus spricht zu Christi Braut und sagt: „Tochter, du hast mich mit einem Löwen verglichen, der unter Wölfen aufgezogen wurde, aber den Wölfen auf wunderbare Weise genommen wurde. Ja Tochter, ich war wahrhaftig ein räuberischer Wolf, aber aus einem Wolf machte Gott mich zu einem Lamm, und das aus zwei Gründen. Erstens durch seine große Liebe, indem er seine Gefäße aus den Unwürdigen und aus den Sündern seine Freunde macht. Zweitens wegen der Gebete des allerseligsten Stephanus, des ersten Märtyrers.

Ich will dir nämlich zeigen, wie ich war und welche Absicht ich hatte, als Stephanus gesteinigt wurde, und warum ich seine Gebete verdiente. Ich habe mich gewiss über die Pein des hl. Stephanus nicht gefreut und sie genossen, und ich beneidete ihn nicht um seine Ehre, aber ich war doch darauf aus, dass er sterben sollte, weil ich sah, soweit ich es beurteilen konnte, dass er nicht den rechten Glauben hatte. Als ich seinen übermäßig großen Eifer und seine Geduld sah, das Leiden zu ertragen, war ich sehr betrübt darüber, dass er ungläubig war, wo er doch tatsächlich höchst gläubig war, und ich ganz und gar blind und ungläubig, und ich hatte Mitleid mit ihm und betete von ganzem Herzen darum, dass seine bittere Pein ihm zur Ehre und Belohnung dienen möge.

Deshalb war ich unter den ersten, die Nutzen von seinem Gebet hatten, denn durchsein Gebet wurde ich von den vielen Wölfen entrückt und wurde zu einem sanften Lamm. Daher ist es gut, für alle zu beten, denn das Gebet des Gerechten nützt denen, die am nächsten stehen und am besten geeignet sind, die Gnade zu empfangen. Aber nun klage ich darüber, dass dieser Mann, der unter den Gelehrten so beredt und so geduldig unter denen war, die ihn steinigten, von vielen Herzen ganz vergessen ist – und am meisten von denen, die ihm Tag und Nacht dienen sollten. Sie bieten ihm ihre zerbrochenen, leeren, schmutzigen und ekelhaften Gefäße an. Deshalb werden sie, wie geschrieben steht, mit doppelter Scham und Schande bekleidet und aus dem Haus der Freude ausgestoßen werden.“