20. Kapitel

Die Jungfrau Maria sagt: „Ich bin wie eine Mutter, die zwei Söhne hat, die aber nicht die Brust ihrer Mutter nehmen können, weil sie sehr kalt sind und in einem kalten Hause weilen, die ihre Mutter aber so liebt, dass sie – wenn es möglich wäre – gern ihre Brust zum Wohle ihrer Kinder zerreißen würde. Ich bin in Wahrheit die Mutter der Barmherzigkeit, denn ich erbarme mich über alle, die um Gnade bitten.

Ich habe sozusagen zwei Söhne. Der erste ist die Reue derer, die gegen meinen Sohn gesündigt haben. Der zweite ist der Wille, die begangenen Sünden zu bessern. Aber diese beiden Söhne sind sehr kalt, denn sie haben keine Liebeswärme und keine Sehnsucht nach der göttlichen Freude, und das Haus ihrer Seele ist so kalt und ohne die Flamme der göttlichen Freude, dass sie meine Brust nicht nehmen können.

Aber weil ich barmherzig bin, ging ich zu meinem Sohn und sagte: „Mein Sohn, Preis und Ehre sei dir für alle Liebe, die du mir bewiesen hast! Ich habe zwei Söhne, erbarme dich ihrer, denn sie können vor Kälte nicht die Brust ihrer Mutter nehmen.“ Da antwortete mir mein Sohn: „Geliebte Mutter, dir zuliebe werde ich einen Funken in dieses Haus schicken, aus dem ein mächtiges Feuer entzündet werden kann. Der Funke soll also unterhalten und gehütet werden, so dass deine Söhne erwärmt werden und deine Brust nehmen können.“

Dann sagte die Mutter zur Braut (Birgitta): „Er, für den du bittest, hatte eine besondere Verehrung für mich, und obwohl er sich in vieles Böse eingelassen hat, vertraute er doch stets auf meine Hilfe und hatte eine gewisse Liebeswärme für mich, aber für meinen Sohn hegte er keine Liebe und keine göttliche Furcht. Und deshalb soll er, wenn er in seinen bösen Taten von der Welt abgerufen ist, ohne Ende gepeinigt werden.

Aber weil ich voller Barmherzigkeit bin, habe ich ihn nicht vergessen, sondern um meinetwillen gibt es bei ihm noch etwas Hoffnung auf das Gute, wenn er sich selber helfen will. Nun hat er nämlich Reue über seine Sünden und den Willen, sich zu bessern, aber er ist sehr kalt in der Liebe und Frömmigkeit, und deshalb soll, damit er sich wärmen und meine Brust nehmen kann, ein Funken in das Haus seiner Seele geschickt werden.

Das Betrachten der Pein meines Sohnes soll nämlich oft in seinen Gedanken sein. Er soll bedenken, wie Gottes Sohn und der Sohn der Jungfrau, der ein Gott mit dem Vater und dem Heiligen Geist ist, gelitten hat, wie er gefangen genommen wurde, wie er geschlagen und bespuckt wurde, wie er bis auf die Rippen gegeißelt wurde, so dass das Fleisch bei den Geißelschlägen zu Tage trat, wie er schmerzvoll, mit allen Sehnen zerrissen und durchbohrt, am Kreuz hing, wie er am Kreuz schrie und seinen Geist aufgab.
Wenn er fleißig in diesen Funken bläst, so wird er warm werden, und ich werde ihm dann meine Brust reichen – d.h. die beiden Tugenden, die ich besaß: Die Furcht und den Gehorsam gegenüber Gott. Denn obwohl ich nie gesündigt habe, habe ich doch jede Stunde gefürchtet, dass ich meinen Gott durch Worte oder Taten erzürnen würde.

Durch diese Furcht werde ich meinen Sohn stillen d.h. die Reue bei diesem meinem Verehrer, für den du bittest, so dass er nicht nur Reue über das empfindet, was er Böses getan hat, sondern auch die Strafe fürchtet und fürchtet, hiernach meinen Sohn Jesus Christus zu erzürnen. Ich werde auch seinen Willen durch den Gehorsam meiner Brust stillen. Ich bin ja die, die nie gegen Gott ungehorsam war. Deshalb werde ich ihm, wenn er in der Liebe meines Sohnes warm geworden ist, den Gehorsam senden, womit er in allem dem gehorcht, was ihm befohlen wird.“

Erklärung
Dieser Mann war Frau Birgittas Verwandter und sehr weltlich eingestellt. Durch göttliche Ermahnung wurde er von Reue ergriffen und bekehrte sich. Er pflegte zu sagen: „Solange ich Reue und Buße verabscheute, fühlte ich mich belastet, wie von Fesseln. Seit ich anfing, zu beichten, fühle ich mich so erleichtert und in der Seele zufrieden, dass ich nicht mehr auf Ehrenbezeugungen oder zeitliche Verluste achte. Und nichts gefällt mir so, wie von Gott zu reden und von ihm zu hören.“

Nachdem er Gottes Sakrament genommen hatte, entschlief er im Herrn, indem er Jesu Namen anrief und sagte: „Liebster Jesus, erbarme dich meiner!“