57. Kapitel

Die Mutter spricht zur Braut des Sohnes und sagt: „Meine Tochter, wisse, dass ich nicht wie andere Frauen gereinigt werden musste, denn mein Sohn, der von mir geboren wurde, hat mich gereinigt. Und ich bekam nicht den kleinsten Fleck; ohne irgendwelche Unreinheit habe ich den reinsten Sohn geboren. Aber damit das Gesetz und die Prophezeiungen erfüllt werden sollten, wollte ich auch nach dem Gesetz und im Gesetz leben. Und ich wollte nicht nach dem Vorbild weltlicher Verwandten leben, sondern ich verkehrte demütig mit den Demütigen. Ich wollte auch nicht irgend etwas Besonders an mir sehen lassen, sondern ich liebte alles, was zur Demut gehörte.

Und an einem solchen Tag wie heute erhöhte sich mein Schmerz, denn obwohl ich schon durch göttliche Eingebung wusste, dass mein Sohn leiden würde, wurde ich doch durch Simons Worte tief getroffen, der sagte, dass ein Schwert durch meine Seele gehen würde, und dass mein Sohn als ein Zeichen gezeigt werden würde, dem widersprochen würde. Dieser Schmerz schnitt mir noch schlimmer ins Herz, und bevor ich mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen wurde, verließ er nie mein Herz, obwohl er manchmal durch den Trost von Gottes Geist gemildert wurde.

Ich will auch, dass du wissen sollst, dass meine Trauer von dem Tage an sechsfach war. Erstens war es Trauer in meinen Gedanken, denn so oft ich meinen Sohn betrachtete, so oft ich ihn in Windeln legte, so oft ich seine Hände und Füße sah, bemächtigte sich meiner Seele ein Schmerz, denn ich dachte da, wie er gekreuzigt werden würde.

Zweitens war es Trauer in meinen Ohren. Denn so oft ich meinen Sohn schmähen hörte, wie man ihn verleumdete und ihm eine Falle stellte, wurde meine Seele von Schmerz ergriffen, so dass sie sich kaum beherrschen konnte. Doch hatte mein Schmerz dank Gottes Kraft Maß und Ehrbarkeit, so dass keine Ungeduld und Unstetigkeit bei mir zu merken war.

Drittens war Trauer in meinen Augen. Denn als ich sah, wie mein Sohn gefesselt, gegeißelt und ans kreuz gehängt wurde, da fiel ich wie leblos nieder; doch raffte ich mich wieder auf und stand trauernd und so geduldig und verhärmt da, dass weder Feinde noch andere etwas anderes als Stärke und Festigkeit bei mir finden konnten.
Viertens war es Trauer in meinem Empfinden. Denn ich habe ja mit anderen meinen Sohn vom Kreuze abgenommen, ihn in Tücher eingehüllt und ihn ins Grab gelegt – und da wuchs mein Schmerz so an, dass meine Hände und Füße kaum noch Kraft hatten. O wie gern wäre ich da mit meinem Sohn begraben worden!
Fünftens litt ich an einer so heftigen Sehnsucht, heim zu meinem Sohn zu kommen, nachdem er zum Himmel aufgefahren war, und während der langen Zeit, die ich nach seiner Himmelfahrt auf Erden bleiben musste, wuchs mein Schmerz noch mehr.

Sechstens litt ich durch die Verfolgungen der Apostel und der Freunde Gottes Schmerz, denn ihr Schmerz war auch der meine. Ich hatte ständig Sorge und Angst, dass sie den Versuchungen und Leiden erliegen könnten, und ich war traurig darüber, dass die Worte meines Sohnes überall auf Widerspruch stießen. Aber weil Gottes Gnade immer bei mir blieb und meine Wille sich nach Gottes Willen richtete, war mein ständiger Schmerz doch mit Trost vermischt, bis ich mit Leib und Seele in den Himmel zu meinem Sohn erhoben wurde. Deshalb, o Tochter, soll dieser Schmerz nicht von deiner Seele weichen, denn wenn es keine Trübsale geben würde, würden nur sehr wenige Menschen ins Himmelreich kommen.“