58. Kapitel

Maria spricht zur Braut und sagte: „Ich sprach mit dir über meine Sorgen. Aber die Sorge, die ich hatte, war nicht die Kleinste, als ich meinen Sohn auf der Flucht nach Ägypten brachte, als ich hörte, dass die unschuldigen Kinder ermordet wurden, und dass Herodes meinen Sohn verfolgte. Und wenn ich auch wusste, was über meinen Sohn geschrieben war, wurde doch mein Herz auf Grund der großen Liebe, die ich für meinen Sohn hatte, von Kummer und Schmerz erfüllt.

Aber nun könntest du fragen, was mein Sohn die ganze Zeit seines Lebens getan hat, die seinem Leiden vorausging. Ich antwortete darauf, dass er – wie das Evangelium sagt – seinen Eltern untertan war und sich benahm wie andere Kinder, bis er älter wurde. Doch fehlte es in seiner Kindheit nicht an Wundern: Wie die erschaffenen Dinge ihrem Schöpfer dienten, wie die Abgötter zum Schweigen gebracht wurden, und wie mehrere von ihnen in Ägypten bei seiner Ankunft umstürzten, wie die weisen Männer voraussagten, dass mein Sohn ein Zeichen für große zukünftige Dinge wäre, wie auch die Engel ihm sichtbar dienten, wie ihm niemals irgendeine Unreinheit anhaftete und wie sein Haar niemals zerzaust war – all dies brauchst du ja eigentlich nicht zu wissen, da im Evangelium Zeichen für seine Göttlichkeit und Menschlichkeit vorliegen, von denen du und andere erbaut wurden.

Aber als er älter wurde, war er unermüdlich in Gebeten, und er ging gehorsam mit uns zu den vorgeschriebenen Festen nach Jerusalem und anderen Plätzen. Seine Miene und sein Reden waren so angenehm und wunderbar, dass viele, die betrübt waren, sagten: „Laßt uns zum Sohn Marias gehen; von ihm können wir Trost empfangen.“ Als er an Alter und Weisheit zunahm, von der er von Anfang an voll war, arbeitete er ordentlich mit seinen Händen und sprach mit uns vertrauliche Worte des Trostes und über die Gottheit, so dass wir stets voll unsagbarer Freude waren. Und wenn wir in Angst, Armut oder Schwierigkeiten waren, beschaffte er uns kein Gold oder Silber, sondern ermahnte uns zu Geduld.

Wir wurden in wunderbarer Weise vor neidischen Menschen bewahrt. Das Notwendige floss uns manchmal durch das Mitleid milder Menschen zu, manchmal durch unsere Arbeit, so dass wir das Notwendige hatten – aber nur zu unserem Unterhalt und nicht zum Überfluss, denn wir wollten ja nichts anderes, als Gott allein zu dienen.

Weiter sprach er daheim vertraulich mit den Freunden, die dorthin kamen, über das Gesetz und dessen Inhalt und über Zeichen, oder disputierte öffentlich mit den Weisen, so dass sie verblüfft waren und sagten: „Siehe, Josephs Sohn lehrt ja die Meister; irgendein großer Geist redet in ihm.“ Als ich einmal an sein Leiden dachte, und er sah, wie betrübt ich war, antwortete er mir: „Glaubst du nicht, Mutter, dass ich im Vater bin, und der Vater in mir ist? Wurdest du bei meinem Eingang oder bei meinem Ausgang befleckt?

Warum ängstigst du dich dann und trauerst? Es ist der Wille meines Vaters, dass ich den Tod erleide, und mein Wille stimmt mit dem des Vaters überein. Das, was ich vom Vater habe, kann nicht leiden, aber das Fleisch, was ich von dir angenommen habe, wird leiden, damit das Fleisch von anderen erlöst und die Seelen errettet werden.“ Er war auch so gehorsam, dass – als Joseph gelegentlich zu ihm sagte: „Tu dies oder das“, er das gleich machte. Auf diese Weise verbarg er die Macht seiner Göttlichkeit, so dass nur ich und manchmal Joseph davon wussten.

Wir sahen oft ein wunderbares Licht ihn umstrahlen und hörten Engelstimmen über seinem Haupt singen. Wir sahen auch, wie unreine Geister, die von den im Gesetz empfohlenen Beschwörungen nicht vertrieben werden konnten, die Besessenen beim Anblick meines Sohnes verließen. Das, o Tochter, soll stets in deinem Gedächtnis sein, und du musst Gott aufrichtig danken, der anderen seine Jugend durch dich bekannt machen wollte.“