19. Kapitel

Der Sohn spricht zur Braut: ”Warum betrübst du dich und bist bekümmert, Tochter?“ Sie antwortete: „Weil ich von vielen verschiedenen und unnützen Gedanken heimgesucht werde, die ich nicht verjagen kann, und weil ich beunruhigt bin, als ich von deinem schrecklichen Gericht hörte.“

Der Sohn erwiderte: „Das ist wahre Gerechtigkeit. Denn wie du dich früher gegen meinen Willen an weltlicher Begier belustigt hast, so stellen sich jetzt viele verschiedene Gedanken ein, dich gegen deinen Willen heimzusuchen. Doch sollst du dich mit Klugheit fürchten und fest auf mich vertrauen, deinen Gott, dass – wenn auch der Sinn an den sündigen Gedanken kein Gefallen hat, sondern du gegen sie kämpfst und sie verabscheust, so bewirken sie die Reinigung und Krone der Seele.

Aber wenn es dich gelüstet, eine wenn auch kleine Sünde zu begehen, die du als Sünde begreifst, und du sie im Vertrauen auf deine frühere Enthaltsamkeit und in vermessenem Vertrauen auf die Gnade tust, und du dann nicht von Reue ergriffen wirst oder dich besserst, so sollst du wissen, dass es eine Todsünde werden kann. Wenn daher der Sinn von einer Begierde zur Sünde gepackt wird, so sollst du gleich bedenken, wohin sie führt, und es bereuen. Denn nachdem die Natur des Menschen Schaden genommen hat, tritt die Sünde auf vielerlei Weise durch ihre Krankheit hervor.

Es gibt ja keinen Menschen, der nicht zumindesten lässliche Sünden begeht. Aber der barmherzige Gott hat dem Menschen ein Heilmittel gegeben, nämlich über jede begangene Sünde zu trauern, und darüber, dass er vielleicht nicht für jede gebesserte Sünde Genüge geleistet hat. Denn nichts hasst Gott so, als – wenn du um die Sünde weißt, dich aber nicht darum scherst, oder dich wegen ein paar Verdienste grosstust, als ob Gott deretwegen irgendeine Sünde dulden würde, die du tust, weil er ohne dich nicht geehrt werden kann. Oder, als ob er dir erlauben kann, etwas Böses zu tun, weil du viel Gutes getan hast, wo du doch, wenn du auch hundertfach etwas Gutes für eine einzige schlechte Sache getan hast, Gott seine Liebe und Güte nicht völlig wiedergutmachen kannst.

Hab daher wohlweislich Furcht, und wenn du die Gedanken nicht verhindern kannst, so sei zumindesten geduldig und geh mit deinem Willen gegen sie an. Du wirst nämlich für sie nicht verurteilt, wenn sie nur entstehen, denn du kannst ja nur verhindern, dass du Lust an ihnen findest. Aber auch wenn du den Gedanken gar nicht zustimmst, sollst du Furcht haben, so dass du nicht aus Hochmut zu Fall kommst.

Jeder, der fest steht, tut das nur mit Gottes Kraft. Daher ist die Furcht ein Eingangstor zum Himmel, denn viele sind in Sünde gefallen und haben ihren eigenen heraufbeschworen, weil sie es nicht für nötig hielten, Gott zu fürchten und sich schämten, es vor Menschen zu beichten, was sie sich nicht scheuten, vor Gott zu sündigen. Wer sich daher nicht darum kümmert, für eine kleine Sünde um Verzeihung zu bitten, den werde ich auch nicht für würdig halten, dass seine Sünde vergeben wird, und so vermehren sich die Sünden, indem man sie wiederholt begeht, so dass das, was verzeihlich und entschuldbar wäre, falls man es bereut hat, sehr schwer wird, wenn man es vergisst und ihm nur geringes Gewicht beimisst, was du an dieser Seele sehen kannst, die verdammt ist.

Denn zuerst begeht der Mensch verzeihliche und entschuldbare Sünden, aber dann vermehrt er seine Sünde durch Gewohnheit, indem er sich auf ein paar gute Taten verlässt, die er getan hat, als ob ich nicht auch auf kleine Sünden achten und sie verurteilen würde. Und so verstrickt sich die Seele durch die Gewohnheit eines ungeordneten Begehrens und brachte die sündige Lust nicht zurecht und drängte sie zurück, ehe das Gericht vor der Tür stand, und der letzte Augenblick sich nahte. Als das Ende sich näherte, spürte ihr Gewissen plötzlich Unruhe und Schrecken, und sie machte sich Sorgen, dass sie bald sterben würde, und zitterte davor, von dem kleinen, zeitlichen Gut getrennt zu werden, das sie liebte.

Gott hat nämlich bis zur letzten Minute Nachsicht mit dem Menschen und wartet darauf, zu sehen, ob der sündige Mensch möglicherweise seinen ganzen Willen, der ja ganz frei ist, von der Neigung zur Sünde lösen will. Aber wenn der Wille sich nicht bessert, verstrickt sich die Seele und wird bis ins Unendliche gebunden. Denn der Teufel, der weiß, dass jeder nach seinem Gewissen und Willen beurteilt werden wird, strengt sich meist bis zum Äußersten beim Menschen an, damit die Seele verwirrt und von der rechten Absicht abgewendet wird, die Gott zugesteht, nachdem die Seele sich weigerte, zu wachen, als sie es hätte tun sollen.

Du sollst auch nicht allzu viel darauf geben, wenn ich jemanden Freund oder Feind nenne, wie ich diesen Mann vorher genannt habe, denn auch Judas wurde „Freund genannt, und Nebukadrezar „Diener“. Denn wie ich selbst gesagt habe: „Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch gebiete“, so sage ich jetzt: „Die sind meine Freunde, die mir folgen, und die meine Feinde, die mich und meine Gebote verachten und mich verfolgen.“ Hat nicht David, nachdem ich von ihm gesagt hatte, dass ich in ihm einen Mann nach meinem Herzen gefunden hätte, durch Totschlag gesündigt? Salomo, dem so wunderbare Dinge geschenkt und verheißen wurden, gab seine Güte auf, und wegen seiner Undankbarkeit wurde die Verheißung nicht in ihm erfüllt, sondern in mir, Gottes Sohn.

So wie daher ein Ende für dein Diktat gesetzt wird, so setze ich diesen Abschluss für meine Rede: Wenn jemand meinen Willen tut und seinen eigenen aufgibt, soll er als Erbteil das ewige Leben erhalten. Aber wenn einer meine Worte hört und sie doch nicht in Taten umsetzt, wird er als ein untauglicher und undankbarer Diener gerechnet.
Aber du sollst auch nicht verzagen, wenn ich jemanden „Feind“ nenne, denn sobald ein Gegner seinen Willen ändert und ihn auf das Gute ausrichtet, wird er Gottes Freund. War nicht Judas einer unter den Zwölfen, als ich sagte: „Ihr seid meine Freunde, die ihr mir gefolgt seid; ihr sollt auf zwölf Thronen sitzen?“ Bei dieser Gelegenheit folgte Judas mir, und trotzdem wird er nicht unter den Zwölfen sitzen.

Wie werden da Gottes Worte erfüllt? Ich antworte dir: Gott, der Herz und Willen der Menschen sieht, urteilt und belohnt nach dem, was er sieht. Der Mensch urteilt dagegen nach dem, was er am Gesicht eines anderen sieht. Damit der Gute nicht überheblich und der Böse verzagen soll, hat Gott sowohl Gute wie Böse zum Apostelamt berufen, ebenso, wie er täglich Gute und Böse zu Ehrenämtern beruft, damit alle, die ein Amt mit rechter Lebensart ausüben, im ewigen Leben geehrt werden sollen.

Der dagegen, der die Ehre, aber keine Verpflichtungen hat, soll eine Zeitlang geehrt werden, aber in Ewigkeit verworfen werden. Weil Judas mir nicht mit ganzem Herzen folgte, galten die Worte „Ihr, die ihr mir gefolgt seid,“ nicht für ihn, denn er hielt nicht bis zur Stunde der Belohnung aus, sondern sie gelten denen, die ausgehalten haben, in Gegenwart und Zukunft.
Der Herr, vor dessen Blicken alles offen liegt, spricht nämlich manchmal in Form der Gegenwart, was in die Zukunft gehört, und spricht manchmal von dem, was noch geschehen soll, als ob es schon getan sein würde.

Manchmal mischt er auch das Vergangene mit dem Zukünftigen und benutzt das Vergangene für das Zukünftige, so dass niemand sich erkühnt, den unveränderlichen Ratschluss der Dreieinigkeit zu ergründen.
Höre noch ein Wort. Viele sind berufen, aber wenige auserwählt. So war dieser Mann zum Bischofsamt berufen, aber nicht auserwählt, denn er war gegen Gottes Gnade undankbar. Daher war er wohl dem Namen nach Bischof, aber nicht nach Verdienst, und er wird zu denen gerechnet werden, die hinunterfahren, und nicht zu denen, die hinaufsteigen.“

Zusatz
Gottes Sohn redet, indem er sagt: „Du möchtest wissen, meine Tochter, warum der eine Bischof ein so stilles Ende hatte, der andere ein so schreckliches, denn die Mauer stürzte ein und vernichtete ihn ganz, und er überlebte nur noch kurze Zeit, und in der Zeit litt er die größte Plage.
Ich antworte dir: Die Schrift sagt, oder richtiger, ich selbst habe gesagt, dass der Gerechte, welchen Tod er auch erhält, vor Gott gerecht ist; Weltmenschen halten den für gerecht, der ein schönes Ende ohne Plage und Schande hat, aber Gott hält den für gerecht, der durch eine lange Askese erprobt ist oder um der Gerechtigkeit willen Verfolgung leidet. Denn Gottes Freunde werden auf dieser Welt geplagt, entweder, damit sie eine geringere Strafe in der kommenden erleiden, oder damit sie eine größere Krone im Himmel empfangen.

Petrus und Paulus starben um der Gerechtigkeit willen, aber Petrus auf eine bitterere Weise als Paulus, weil er das Fleisch mehr als Paulus liebte und weil er die Oberhoheit über meine Kirche empfangen hatte, und sich mir durch einen bittereren Tod hätte angleichen müssen. Weil Paulus mehr die Askese liebte und mehr arbeitete, empfing er wie ein berühmter Ritter das Schwert, denn ich ordne alles nach Verdienst und Maß.

Deshalb ist es nicht ein verächtlicher Tod, sondern der Wille und die Absicht des Menschen, der vor Gottes Richterstuhl krönt oder verurteilt. Ebenso ist es mit diesen beiden Bischöfen, denn der eine erlitt eine bittere Plage und einen schimpflicheren Tod, und das führte bei ihm zu einer geringeren Strafe, wenn auch nicht zur Herrlichkeit nachdem er nicht gutwillig litt. Der andere dagegen erhielt ein ehrenvolles Ende, und das geschah durch meine heimliche Gerechtigkeit, aber das gereichte ihm nicht zu ewiger Belohnung, weil er seinen Willen nicht besserte, als er lebte.“