83. Kapitel

Maria sprach und sagte: „Aus drei Dingen konnte man beim Tode meines Sohnes verstehen und einsehen, dass er wahrer Gott und wahrer Mensch war. Erstens, weil die Erde bebte und die Steine sich spalteten. Zweitens, als er sagte: „Die Schrift ist vollbracht!“ Drittens, als er zu dem Räuber sagte: „Heute wirst du mit mir im Paradiese sein.“ Das konnte nämlich kein Heiliger versprechen.“

Dann sprach der Sohn zu seiner Heerschar, die ihn umgab, und sagte: „Meine Freunde, meine Worte sind ewig, und ihr seht und wisst alles in mir, aber um ihretwillen, die hier steht und ohne ein Gleichnis nicht verstehen kann, rede und klage ich vor euch: Ich hatte drei Freunde auf der Welt. Der erste liebte mich, weil er es so empfand. Er dachte nämlich so: „Gott gibt mir Frucht aus der Erde und den Bäumen und Fisch aus dem See; er schenkt außerdem Leib und Seele und außerdem Gesundheit und all das Notwendige.“

So liebte er mich mit seinem Glauben und seinen Liebeswerken, mit Almosen und Fasten. Das waren alles gute Laien. Der zweite liebte mich, weil er es so spürte und sah. Er spürte, dass die Erde Frucht gab, und der Himmel Regen. Er sah in der Schrift, wie er leben sollte, und wie ich und meine Heiligen gelebt und gelehrt haben, und er dachte da bei sich: „Die Menschen sind wie blind und tot, und deshalb werde ich sie unterweisen, nachdem mir Gott die nötige Kenntnis gegeben hat.“ Das waren die guten Gelehrten und Priester, die mich mit der Tat priesen und verherrlichten und einen guten Wandel führten, nachdem sie mich hörten und liebten und mit ihrem Munde andere unterwiesen und ermunterten, so wie sie zu werden.

Der dritte liebte mich, weil er mit vollkommenem Verständnis spürte, sah und betrachtete. Er spürte, wie mein erster Freund es tat, welcher Nutzen ihm von der Erde und vom Himmel zugetragen wurde, von dem er sein Licht erhielt. Er sah wie mein zweiter Freund in den Schriften, was vermieden und was getan werden sollte. Drittens betrachtete er im Innern, welche Liebe ich ihm bewiesen habe.

Wegen drei Dringen, die er betrachtete, fühlte er sich in dreifacher Weise von Liebe verwundet. Er betrachtete nämlich meine Nacktheit und Armut, und deshalb verließ er die Welt und suchte die Einsamkeit auf. Er betrachtete zweitens meine Geduld im Leiden, und deshalb bemühte er sich um Enthaltsamkeit. Er betrachtete meinen Gehorsam bis zum Tode am Kreuz, und deshalb legte er seinen Willen in die Hände anderer. Dies war das gute Klostervolk. Diese meine drei Freunde riefen mir täglich in die Ohren, und ihre Stimme war mir so köstlich wie ein Trank, der gut und angenehm für die Durstigen ist.

Aber jetzt haben sich diese meine Freunde von mir abgewandt, und ihre Stimme ist mir so widerwärtig wie die Stimme von Kröten geworden. Der erste, d.h. das Volk, sagt: „Ich benutze die Erde, weil sie mir Frucht bringt. Ich will von meiner Arbeit leben, wie es mir gefällt. Ich habe es meiner Arbeit zu verdanken, dass ich etwas habe. Ich habe es meinem Fleiß zu verdanken, dass ich etwas besitze. Wenn ich nicht arbeiten würde, würde ich nichts haben.“

Sie danken mir nicht dafür, dass ich ihnen Leben und Gesundheit schenke. Sie denken nicht daran, dass ich die Zeiten so geordnet habe, wie es ihnen passt, und geeignetes Wetter vom Himmel. Sie bedenken nicht, warum ich sie geschaffen habe, und dass sie mir Rechenschaft für ihre Taten ablegen sollen. Daher schreiben sie sich selber Ruhm zu und leben nach ihrer Lust. Sie rauben mir damit das, was mein Recht ist, nachdem sie mir nicht den Zehnten gespendet haben.

Der zweite sagt: „Was ich habe, ist durch meinen Fleiß erworben, und ich habe das mit Recht. Deshalb will ich leben, wie es mir gefällt. Ich werde mir menschliche Weisheit erwerben, denn die göttliche Weisheit ist Torheit, Gottes Gebote sind beschwerlich, und seinem Beispiel ist schwer zu folgen. Ich bin zu Ehre berufen, und daher will ich danach streben, von Menschen geehrt zu werden, denn es ist erfreulich, auf Erden groß zu sein.“

Der dritte sagt: „Ich will ins Kloster gehen, um größere Ehre als andere zu gewinnen. Ich werde unter den Ersten sitzen, wohin ich auch komme.“ Statt nach Armut zu streben, sagt er: „Ich will, dass mir nichts fehlt.“ Statt nach Enthaltsamkeit zu streben, sagt er: „Ich will meinem eigenen Willen folgen.“ Statt nach Gehorsam zu streben, sagt er: „Ich will den Menschen zu meinem eigenen Nutzen gehorchen, und ich kümmere mich nicht darum, Gott zu gehorchen. Wenn ich den Menschen gefallen kann, ist es mir genug.
So klingt ihr verdammter Ruf mir in die Ohren, und so stehen sie vor mir.“