21. Kapitel

Maria sagte: „Fünf Dinge solltest du bedenken, meine Tochter. Erstens, dass alle Glieder meines Sohnes im Tode erstarrten und erkalteten, und dass das Blut unter der Qual aus seinen Wunden trat und geronnen an allen seinen Gliedern klebte. Zweitens, dass er so bitter und unbarmherzig ins Herz gestochen wurde, dass der, der stach, nicht eher aufhörte, als bis der Speer die Rippen berührte und beide Teile des Herzens am Speer klebten.
Bedenke drittens, wie er vom Kreuz abgenommen wurde. Die beiden Männer, die ihn vom Kreuz abnahmen, gebrauchten drei Leitern, von denen eine bis zu den Füßen reichte, eine andere wurde unter den Schultern und Armen aufgestellt, und eine dritte reichte bis zur Mitte des Körpers.

Der erste Mann stieg hinauf und hielt ihn um die Taille. Der zweite stieg auf der anderen Leiter auf und zog erst den Nagel aus der einen Hand; dann drehte er die Leiter nach der anderen Seite und zog den Nagel aus der anderen Hand. Diese Nägel reichten weit über den Stamm des Kreuzes hinaus.
So stieg er, der die Last des Körpers hielt, sachte und vorsichtig herab, und der andere stieg auf die Leiter, die bis zu den Füßen reichte, und zog die Nägel aus den Füßen. Und als der Körper den Boden berührte, fasste einer von ihnen den Körper am Kopf, ein anderer an den Beinen, aber ich, der seine Mutter war, hielt ihn in der Mitte, und so trugen wir ihn zu einer Steinplatte, die von mir mit einem reinen Leinentuch überdeckt war.

Darin wickelte ich den Körper ein, aber ich nähte das Leinentuch nicht zusammen, da ich sicher wusste, dass er nicht im Grab verwesen würde. Dann kamen Maria Magdalena und andere heiligen Frauen, und so zahlreiche heiligen Engel, wie die Staubkörner ihrem Schöpfer Dienst erweisen wollten. Welche Trübsal ich empfand, kann niemand beschreiben. Ich war wie eine Frau, die eben ein Kind geboren hat, und deren Glieder alle nach der Entbindung zittern, und die sich, obwohl sie vor Schmerz kaum atmen kann, doch von Herzen freut, so viel sie kann, da sie weiß, dass das Kind, das sie geboren hat, nie mehr in dasselbe Elend zurückkehren wird, von dem es ausgegangen ist.

So war es auch mit mir: Obwohl ich über die Maßen betrübt über den Tod meines Sohnes war, freute ich mich doch in meiner Seele, weil ich wusste, dass er nun nicht mehr sterben, sondern in Ewigkeit leben würde, und so wurde meine Trauer mit etwas Freude vermischt. Ich kann ihn Wahrheit sagen, dass – als mein Sohn begraben war, gleichsam zwei Herzen in einem Grabe waren. Ist nicht gesagt, dass – wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz? So weilten meine Gedanken und mein Herz stets im Grabe meines Sohnes.“

Dann sagte die Mutter Gottes: „Ich will dir durch ein Gleichnis sagen, in welchem Zustand dieser Mann sich befand, und wie er jetzt beschaffen ist. Es ist so, als ob eine Jungfrau mit einem Mann verlobt ist, und vor ihr stünden zwei junge Männer, von denen der eine von der Jungfrau gerufen wurde und zu ihr sagt: „Ich rate dir, dass du ihm nicht glauben sollst, mit dem du verlobt bist, denn er ist hart in seinen Taten, säumig im Belohnen und gierig nach Geschenken. Glaube also lieber mir und den Worten, die ich dir sage. Ich werde dir einen anderen zeigen, der nicht hart ist, sondern in allem milde. Er gibt dir gleich, was du haben möchtest, ja er schenkt dir überreichlich, was dir genügt und die gefällt.“

Als die Jungfrau das hörte, dachte sie bei sich und antwortete: „Deine Worte sind lieblich anzuhören. Selbst bist du sanft und hübsch; ich glaube, es ist ratsam, deinen Worten zu folgen.“ Und als sie den Ring vom Finger nahm, um ihn dem Jüngling zu reichen, sieht sie im Ring eine Inschrift mit drei Sätzen. Der erste lautet: „Wenn du an die Spitze des Baumes kommst, sollst du dich vorsehen, dass du nicht einen vertrockneten Zweig als Stütze nimmst, denn dann kannst du fallen.“ Der andere lautet: „Hüte dich, dass du nicht einen Rat von einem Feind annimmst!“

Der dritte: „Leg nicht dein Herz zwischen die Zähne des Löwen!“
Als die Jungfrau dies sieht, zieht sie die Hand zurück, hält den Ring fest und denkt: „Diese drei Sätze, die ich sehe, bedeuten vielleicht, dass er, der mich zur Braut haben will, nicht treu ist. Mir scheint, als wären seine Worte eitel, und dass er voller Haß ist und mich töten will.
Und während sie das denkt, schaut sie wieder auf den Ring und sieht da eine andere Inschrift, die auch aus drei Sätzen besteht. Der erste lautet: „Gib ihm das, was er dir gab.“ Der andere: „Gib Blut für Blut.“ Der dritte: „Nimm dem Besitzer nicht fort, was sein eigen ist.“

Als die Jungfrau das sah und hörte, denkt sie bei sich wieder: „Die letzten drei Sätze lehren mich, wie ich vor dem Tode fliehen soll, die folgenden drei, wie ich das Leben behalten soll. Da ist es richtig, dass ich lieber den Worten des Lebens folge.“ So fasst die Jungfrau einen klugen Entschluß und ruft ihren Diener zu dem, der sich zuerst mit ihr verlobt hatte. Und als dieser sich nahte, entfernt sich der, der sie betrügen wollte.
So ist die Seele dieses Mannes. Sie ist mit ihrem Gott verlobt. Die beiden Jünglinge, die vor ihr standen, sind Freunde Gottes und Freunde der Welt. Freunde der Welt sind bisher diesem Mann nähergekommen, und sie haben mit ihm über Reichtümer und Ehre der Welt gesprochen.

Er hat ihnen beinah den Ring seiner Liebe gereicht und wollte ihnen in allem gehorchen. Aber als die Gnade meines Sohnes ihm zu Hilfe kam, sah er eine Inschrift, d.h. er hörte Worte der Barmherzigkeit, und daraus begriff er drei Dinge. Erstens, dass er sich hüten soll, zu hoch hinauf zu steigen und sich auf vergängliche Dinge zu stützen, denn dann würde ihm ein umso größerer Fall drohen. Zweitens verstand er, dass es auf der Welt nichts anderes gibt, als Schmerz und Kummer. Drittens, dass die Belohnung des Teufels schlecht ist.

Dann sah er eine andere Inschrift, d.h. er hörte Gottes trostreiche Worte. Erstens, dass er das Seinige Gott schenken sollte, von dem er alles hat. Zweitens, dass er seine körperlichen Dienste dem geben soll, der sein Blut für ihn vergossen hat. Drittens, dass er seine Seele keinem anderen schenken sollte als Gott, der ihn geschaffen und erlöst hat. Wenn er das hört und genau bedenkt, gefällt er dem Diener Gottes und kommt ihm nahe, und der Diener der Welt rückt von ihm ab.

Aber nun ist seine Seele wie eine Jungfrau, die sich kürzlich aus den Armen ihres Bräutigams erhoben hat, und die drei Dinge braucht. Erstens schöne Kleider, so dass sie von den Dienern des Königs nicht verspottet wird, wenn ein Fehler in ihren Kleidern bemerkt wird. Zweitens muß sie tüchtig sein und dem Willen ihres Bräutigams gehorchen, so dass in ihren Handlungen nichts Unehrenhaftes entdeckt wird, und sich der Bräutigam ihretwegen schämen muß. Drittens soll sie so rein sein, dass der Bräutigam nicht einen einzigen Fleck bei ihr findet, wegen dem sie verachtet und verstoßen werden könnte.

Sodann sollte sie jemanden haben, der sie zum Bett ihres Bräutigams führt, so dass sie nicht verkehrt oder in den schweren Eingang geht. Aber der, der Brautführer ist, sollte zwei Dinge haben. Erstens sollte er von dem gesehen werden, der ihm folgt. Zweitens sollte das zu hören sein, was er sagt, und wohin er geht.
Aber die, die einem Vorausgehenden folgt, muß drei Dinge haben. Erstens sollte sie beim Nachfolgen nicht saumselig und träge sein. Zweitens soll sie sich nicht vor seinem Vorgänger verstecken. Drittens soll sie gewissenhaft auf die Fußspur des Vorausgehenden achten und ihm genau folgen. Damit ihre Seele zum Gemach des Bräutigams gelangen kann, ist es also notwendig, dass sie von einem Brautführer geleitet wird, der sie glücklich hin zu Gott, ihrem Bräutigam führt.“