6. Kapitel

Der Sohn (Christus) sagte: „Ich bin wie ein König, der auf einem Felde stand und seine Freunde auf der rechten Seite und seine Feinde auf der linken hatte. Als sie nun in dieser Weise dastanden, drang die Stimme eines Rufers auf die rechte Seite, wo alle wohlbewaffnet standen, mit festgebundenen Helmen und das Gesicht ihrem Herrn zugewendet. Die Stimme rief: „Wendet euch zu mir und glaubt an mich; ich habe euch Gold zu schenken.“

Sie hörten die Stimme und wandten sich in die Richtung, aus der sie kam, und als sie sich gewendet hatten, sagte die Stimme erneut: „Wenn ihr Gold sehen wollt, so bindet eure Helme ab, und wenn ihr das besitzen wollt, so will ich euere Helme wieder nach meinem Willen festbinden.“
Sie gehorchten ihm, und er band ihre Helme nach rückwärts, so dass die Vorderseite mit dem Loch, wodurch sie sehen konnten, in den Nacken kam, und die Rückseite des Helms verdeckte ihre Augen, so dass sie nicht sehen konnten. Und so führte sie dieser Rufer blind hinter sich her.

Als dies geschah, teilten einige Freunde des Königs ihrem Herrn mit, dass seine Männer von seinen Feinden irregeleitet waren. Da sagte er zu seinen Freunden: „Geht ihnen nach und ruft: „Bindet eure Helme ab, dann werdet ihr gewahr, dass ihr betrogen seid! Wendet euch zu mir, so will ich euch in Frieden aufnehmen.“ Sie wollten jedoch nicht hören, sondern machten sich darüber lustig.

Als die Diener das hörten, erzählten sie es ihrem Herrn, der sagte: „Nachdem diese mich verschmäht haben, könnt ihr gleich auf die linke Seite gehen und denen, die dort stehen, diese drei Dinge sagen: „Der Weg, der zum Leben führt, ist für mich bereit; die Tür ist offen, und der Herr will euch selbst mit Frieden entgegenkommen. Glaubt daher fest daran, dass der Weg bereitet ist, und hofft standhaft, dass die Tür offen ist und seine Worte wahr sind; eilt dem Herrn mit Liebe entgegen, so wird er euch mit Liebe und mit Frieden empfangen und euch zum ewigen Frieden führen.“ Die, welche die Worte der Boten hörten, glaubten daran und wurden in Frieden aufgenommen.

Ich bin dieser König. Ich hatte die Christen auf meiner rechten Seite, denn ich hatte ihnen das ewige Gut bereitet. Da waren ihre Helme festgebunden und ihre Gesichter mir zugewandt, als sie den festen Willen hatten, meinen Willen zu tun und meinen Geboten zu gehorchen, und ihr ganzes Verlangen zum Himmel gerichtet war. Aber so erklang auf der Welt die Stimme des Teufels, d.h. der Hochmut, der ihnen die Reichtümer der Welt und die fleischliche Lust zeigte.

Da wandten sie sich dahin und gaben ihr Begehren und ihre Zustimmung der Hoffahrt hin. Sie legten ihretwegen auch ihre Helme ab, als sie ihr Begehren in die Tat umsetzten und das Zeitliche vor das Geistliche setzten. Nachdem sie also die Helme des göttlichen Willens und die Waffen der Tugend abgelegt hatten, bekam der Hochmut so große Macht über sie und machte sie seiner Herrschaft so untertan, dass sie gern bis zum Ende sündigen wollten, ja gern bis in Ewigkeit leben wollten, um dann in Ewigkeit sündigen zu können.

Diese Hoffahrt hat sie so verblendet, dass die Sehlöcher des Helmes, durch die sie sehen sollten, sich jetzt im Nacken, und Dunkelheit vorn an der Stirn befindet. Was sind die Löcher der Helme anders, wenn nicht das Betrachten der Zukunft und das nachdenkliche Beachten der Gegenwart? Durch das erste Sehloch könnten sie betrachten, wie lieblich die ewigen Belohnungen sind, und wie schrecklich die künftigen Strafen sind, und wie schrecklich Gottes Gerichte sind.

Durch das andere Sehloch sollten sie betrachten, was von Gott vorgeschrieben und was verboten ist, wie oft sie Gottes Gebote übertreten haben, und wie sie Besserung üben sollten. Aber diese Löcher sind jetzt im Nacken, wo nichts zu sehen ist, denn das Betrachten der himmlischen Dinge ist in Vergessenheit geraten. Die Liebe zu Gott ist erloschen, aber die Liebe zur Welt hält man für so lieblich und umfasst sie mit solcher Zärtlichkeit, dass sie sie wie ein gut geöltes Rad zu allem führt, was sie nur wollen.

Aber wenn meine Freunde meine Schande, den Abfall der Seelen und die Herrschaft des Teufels sehen, richten sie täglich ihre Gebetesrufe für diese Unglücklichen an mich, und ihre Gebete sind durch den Himmel und zu meinen Ohren gedrungen, und bewegt von ihren Bitten habe ich ihnen Tag für Tag meine Prediger gesandt, habe ihnen Vorzeichen gezeigt und ihnen vielfältig meine Gnade erwiesen. Sie haben jedoch das alles verachtet und Sünde auf Sünde gehäuft.

Daher will ich meinen Dienern jetzt sagen und in Wahrheit das vollenden, was ich sage: Meine Diener, geht nun auf die linke Seite, nämlich zu den Heiden, die bis jetzt in Verachtung lebten, als ständen sie auf der linken Seite. Geht zu ihnen hin und sagt: „Der Herr des Himmels und der Schöpfer aller Dinge lässt euch dies sagen: Der Weg zum Himmel steht euch offen; habt nur den Willen, mit festem Glauben einzutreten. Das Himmelstor steht euch offen; hofft nur fest und tretet durch es ein. Der König des Himmels und der Engel will euch selbst entgegenkommen und euch Frieden und ewigen Segen schenken.

Geht ihm entgegen und nehmt ihn mit seiner Treue auf, die er euch gezeigt hat, und mit der er den Weg zum Himmel bereitet. Empfangt ihn mit der Hoffnung, mit der ihr auf ihn hofft, denn jetzt will er euch den Himmel schenken. Liebt ihn von eurem ganzen Herzen, vollendet es in der Tat und treten durch die Tore Gottes ein, aus denen die Christen vertrieben werden sollen, die nicht durch sie eintreten wollen, und sich durch ihre Taten unwürdig machen. Ich sage euch in meiner Wahrheit, dass ich meine Worte vollenden und sie nicht aufgeben werde. Ich werde euch als meine Kinder aufnehmen und euer Vater sein, da die Christen mich nun schimpflich verschmäht haben.

Ihr meine Freunde, die ihr auf der Welt seid, könnt also siegesgewiss voranschreiten, zu ihnen rufen, ihnen meinen Willen verkünden und ihnen helfen, so dass sie ausführen können. Ich werde in eurem Herzen und eurem Munde sein. Ich werde euer Führer im Leben sein und euch im Tode bewahren. Ich werde euch nicht verlassen; schreitet mutig vorwärts, denn durch die Arbeit wird die Ehre wachsen. Ich könnte alles in einem Augenblick und mit einem Worte tun, aber ich will, dass euer Lohn desto größer durch den Kampf wird, und meine Ehre durch euren Mannesmut wächst.

Wundert euch nicht darüber, dass ich rede. Denn wenn der Weiseste auf Erden sehen könnte, wie die Seelen Tat für Tag hinunter in die Hölle fahren, so würde er sehen, dass sie an Anzahl mehr als die Sandkörner des Meeres und die Kieselsteine am Strande sind. Das ist gerecht, denn sie haben sich von ihrem Gott und ihrem Herrn Getrennt. Deshalb spreche ich darüber, dass der Anhang des Teufels vermindert werden soll, dass man die Gefahr sieht und meine Heerschar vermehrt werden soll; vielleicht hören sie dann zu und hören mit ihren Sünden auf.“